Kungeln bis zum Schluß, Brüssel gegen Budapest – und Trump ante portas
Die Watchlist EUropa vom 16. Juli 2024 – Heute mit von der Leyens verzweifelter Mehrheits-Suche, einem bizarren innereuropäischen Boykott und einem Vorentscheid im amerikanischen Wahlkampf
Die Europawahl sollte die angeschlagene Demokratie in Europa retten. Doch nun zeigt die EU, wie man es in einer Demokratie nicht machen soll. Statt sich offen und transparent um Mehrheiten zu bemühen, Koalitionen zu bilden und ein Wahlprogramm vorzulegen, kungeln EU-Chefin von der Leyen und ihre Anhänger bis zum Schluß.
Das Gekungel begann schon bei der Nominierung. Sechs Staats- und Regierungschefs aus drei Parteien haben sich auf von der Leyen geeinigt – hinter den Kulissen, ohne Rücksicht auf die in vielen Ländern (auch Deutschland) erstarkte Rechte, und ohne die erste Sitzung des Europaparlaments abzuwarten.
Doch nun, da die neu gewählten Abgeordneten endlich in Straßburg zusammenkommen, ist immer noch nicht klar, ob von der Leyen eine Mehrheit hat. Die “Plattform”, wie sich das Machtkartell aus konservativer EVP, sozialdemokratischer S&D und liberaler Renew nennt, fürchtet eine Niederlage.
Grüne Mehrheitsbeschaffer
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Sie verfügt zwar rechnerisch über 401 Abgeordnete – mehr als genug, um die benötigten 361 Stimmen zu holen. Doch zehn bis 15 Prozent könnten von der Stange gehen, wie frühere Wahlen zeigen. Vor allem in Frankreich ist der Unmut über von der Leyen groß, auch in Deutschland hat sie viele Gegner.
Deshalb holt man nun auch die Grünen ins Boot. Die grünen Wahlverlierer sollen als Mehrheitsbeschaffer für von der Leyen dienen, aber kein Teil der “Plattform” werden – so will es EVP-Chef Weber, um seine Truppen beisammen zu halten. Schließlich hatten sie Wahlkampf gegen die Grünen gemacht!
Dies schafft böses Blut. “Ich hätte echte Koalitions-Gespräche bevorzugt”, sagt Daniel Freund von den Grünen. “Die Grünen sollten Teil der Plattform werden”, fordert René Repasi von der SPD. Von der Leyen macht aber nicht mit – denn sie braucht auch konservative und rechte Stimmen.
Auch Rechte werden hofiert
Statt mit offenen Karten zu spielen und eine Koalition zu bilden, setzt die CDU-Politikerin ihre Kungelrunden bis zur Wahl fort. Am Dienstag will sie sogar die rechtskonservative EKR-Fraktion treffen – also genau jene rechten Abgeordneten, vor denen Grüne, Sozis und Liberale seit Wochen warnen.
Was soll das bringen? Bisher hat von der Leyen allen Fraktionen wohlklingende Versprechen gemacht, sich aber nicht festgelegt. Erst am Donnerstag, wenige Stunden vor der Wahl, will sie ihr Programm vorlegen. Erst dann wird sich zeigen, wer Hinterzimmer-Deals machen konnte – und wer nicht.
Und wenn es schief geht und von der Leyen durchfällt? Dann – so heißt es in ihrem Umfeld – naht der Weltuntergang. “Es gibt keinen Plan B”, warnt ihr Vize M. Schinas. Will sagen: Wer mit VDL stimmt, stimmt für die Demokratie. Wer gegen sie stimmt, stimmt für das Chaos…
Siehe auch “Von der Leyen muß weiter zittern”
News & Updates
- Auch die EU-Kommission boykottiert Orban. Die EU-Kommission hat als Reaktion auf die umstrittene “Friedensmission” von Regierungschef Orban einen Boykott der informellen Treffen unter ungarischem Ratsvorsitz angekündigt. Angesichts “der jüngsten Entwicklungen” habe von der Leyen entschieden, dass die Kommissare nicht zu den Treffen nach Ungarn reisen, sagte ihr Sprecher. Die Regierung reagierte empört. “Die EU-Kommission kann sich nicht Institutionen und Minister aussuchen, mit denen sie kooperieren will. Sind alle Beschlüsse der Kommission nun auf politische Erwägungen gegründet?”, schrieb der Minister für EU-Angelegenheiten, J. Boka. – Mehr zur bizarren Boykottwelle gegen Orban hier.
- Selenskyj plant Friedensgipfel vor US-Wahl. Zufälle gibt’s. Während Orbans “Friedensmission” vor dem Scheitern steht, weil die Ukraine und die EU nicht mitspielen, hat Präsident Selenskyj einen weiteren Friedensgipfel angekündigt. Er soll noch vor der US-Präsidentshaftswahl im November stattfinden und diesmal auch Russland einschließen. Doch wie will man Putin zur Teilnahme bewegen, wenn man nicht mit ihm spricht? – Siehe auch “Frischer Rückenwind für Friedenslösung”
- Brüssel billigt (illegale) Pushbacks in Finnland. Finnland will es mit einem umstrittenen Gesetz vorübergehend erlauben, Migranten an der Grenze zu Russland abzuweisen und zurückzuschicken – ein Verstoß gegen internationales Asylrecht. Auf Nachfrage sagte die EU-Kommission, es gehe um eine besondere Lage, deshalb wolle man kein Urteil abgeben. Kommissisonschefin von der Leyen hatte zuvor bereits Zustimmung signalisiert. – Wenn es gegen Russland geht, ist offenbar alles erlaubt...
Das Letzte
Trump ante portas. Jahrelang hat die EU das Risiko einer Rückkehr von Ex-Präsident Trump an die Macht ignoriert. Doch nun müssen die EUropäer umdenken. Denn seit dem mißglückten Attentat auf Trump verspürt der unberechenbare Republikaner noch mehr Rückenwind. Und nach seiner offiziellen Nominierung beim Parteitag (mit J.D. Vance als Vize) ist seine Wiederwahl wahrscheinlicher denn je. Doch die EU ist nicht darauf vorbereitet. Jetzt rächt es sich, dass man sich unter Biden noch abhängiger von den USA gemacht hat – und versäumte, Brücken ins Trump-Lager zu bauen. Ungarns Regierungschef Orban war zwar gerade erst bei Trump zu Besuch – doch er wird nicht etwa befragt, sondern boykottiert (siehe oben)…
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Frank Volkmar
16. Juli 2024 @ 14:49
Wenn ich den Umfrageergebnissen Glauben schenke, danach ist die Mehrheit der Deutschen für eine Friedenslösung in der Ukraine. Ich habe lange hin- und her überlegt, wie am am besten “ Volkes Wille “ zum Ausdruck bringt.
Ergebnis und Vorschlag:
In Dtld die jeweilen Landkreisabgeorneten (MdB) und in Brüssel die Kommission mit Emails und Forderungen nach Unterstützung Orbans überfluten.
Kerberos
Thomas Damrau
16. Juli 2024 @ 13:44
„Doch die EU ist nicht darauf vorbereitet“ (darauf=Trump’s next term).
Zumindest die CDU scheint ihren Frieden mit Trump gemacht zu haben. So entdeckt Partei-Vize J.Spahn heuteim Interview mit dem DLF ( https://www.deutschlandfunk.de/beginn-des-parteitags-der-us-republikaner-interview-mit-jens-spahn-cdu-dlf-fe11a127-100.html ) viele politische Gemeinsamkeiten mit Trump (CDU-Werte =~= Trump-Werte).
Dass Trump zwischendurch gerne mal als Schulhofschläger in Aktion tritt?
Klar, ein bisschen peinlich – aber der Schulhofschläger prügelt auf die Leute ein, auf die Spahn auch gerne einprügeln würde.
Dass Trump gerne die Gewaltenteilung schleifen würde? Das träumt sicher auch der eine oder andere in der CDU (z.B. Spahn?).
Also win-win zwischen CDU und Trump.
exKK
17. Juli 2024 @ 03:33
„Dass Trump gerne die Gewaltenteilung schleifen würde? Das träumt sicher auch der eine oder andere in der CDU (z.B. Spahn?)“
Hat die CDU doch schon gemacht: in dem sie einen der ihren direkt aus der Legislative heraus ganz ohne vorheriges Abklingbecken zum Präsidenten des BVerfG gemacht hat, wurden die Grenzen bereits verwischt!
Zal
16. Juli 2024 @ 13:43
Ebo, wieso hört man nix von Rückendeckung aus der Slowakei für Orban? Hat der Fico seine Meinung geändert?
Schon unglaublich auf diese beiden hoffen zu müssen weil unsere transatlantischen Politiker so nen Schiss im Hirn haben und unser Leben für dieses Überbleibsel der Bush Junior sowie der Biden Idiotien opfern.
Auf phonix lief heute eine „plus“ Sendung mit Thema ‚Krieg und Frieden‘, in der sie ernsthaft auf den Ersten Weltkrieg zurückgreifen um zu erklären dass nur ein „Siegfrieden“ die Opfer nach einem blutigen Krieg rechtfertigen könne, weswegen der sich dann nochmal verlängere und verschlimmere.
Aber natürlich geht der Sender der über die letzten 25 Jahre vermutlich im Durchschnitt 6 Stunden täglich NS Dokus sendete, nicht auf die Endsiegphantasie des 3. Reiches, weil das wäre bei der Ukraine wohl ein Einschlag ‚to close to home‘, nicht wahr.
european
16. Juli 2024 @ 07:59
Wäre das ein Schauspiel würde man nicht bis zur Pause warten um zu gehen.
Was für ein peinliches Theater. Unglaublich 🙁
Und die Wähler können nichts dagegen tun.
exKK
16. Juli 2024 @ 12:11
Aus dem Artikel:
„Will sagen: Wer mit VDL stimmt, stimmt für die Demokratie. Wer gegen sie stimmt, stimmt für das Chaos…“
Jedes, wirklich jedes Chaos ist weniger furchterregend als noch mal 5 Jahre VDL!
Stef
16. Juli 2024 @ 07:49
Der nunmehr offizielle Boykott gegenüber Orban bewegt sich auf derselben Stufe infantiler Arroganz und demonstrativen Größenwahns wie die Pfiffe deutscher Fußballfans gegen den spanischen Verteidiger Cucurella. Die Fähigkeit, unerwünschte Entwicklungen und abweichende Meinungen auszuhalten (geschweige denn for the sake of the Argument nachzuvollziehen) ist sowohl bei der Politelite als auch bei einem beträchtlichen Teil der Bevölkerung abhanden gekommen.
Auf politischer Ebene nimmt man dabei die Beschädigung europäischer Institutionen in Kauf. Das macht man nur, wenn man auch deren Zerstörung billigt. Ich frage mich, ob es nicht im Kern genau darum geht: Die Erzwingung einer existenziellen und breitbandigen Krise, um die Bedingungen für fundamentale Änderungen zu erhalten.