Krise ohne Ende?
In und um Europa spitzen sich die Dinge zu. Die EU kommt gar nicht mehr heraus aus dem Krisenmodus, gleichzeitig wiederholt Kanzlerin Merkel ihr trotziges “Wir schaffen das”. Wie umgehen damit?
Von Moritz Rudolph
Ein Blick in die Welt verheißt derzeit nichts Gutes. Beinahe die gesamte europäische Peripherie brennt, ein Flammenbogen spannt sich von Osteuropa über den Nahen Osten bis hinein in den Maghreb und die Sahelzone.
Und auch in Europa selbst schwelt es: Die Frage, wie mit dem Exodus aus den zerrütteten Regionen umzugehen sei, droht die EU-Staaten zu spalten, Schengen steht auf der Kippe, das politische Spektrum driftet nach rechts. Der Terror hat sich erneut in unsere Städte eingeschlichen, ist ganz nah.
Seit Jahren brodelt überdies die Finanz- Wirtschafts- und Eurokrise vor sich hin, ohne dass ein entscheidender Durchbruch gelungen wäre. Sie wurde bloß überlagert, verdrängt.
Vorher, im „Krisenjahrzehnt“, hatten wir den 11. September, dann den Krieg gegen den Terror, den im Irak und viele weitere, die Krise des Klimas, der Energie und die nach Fukushima, „die Krise wird zur Lebensform“, schreibt Thomas Assheuer in der ZEIT. Kommen wir da überhaupt noch heraus?
„Wir schaffen das“, meinen manche achselzuckend, wurschteln weiter wie bisher und sind nicht erschüttert in ihrem Grundvertrauen, dass man das schon hinbekomme, irgendwie; und am Ende, Simsalabim, stehe man besser da denn je. Zu ihnen zählt auch die Bundeskanzlerin, als sie sagte, Deutschland müsse stärker aus der Krise herauskommen, als es in sie hineingegangen ist.
In Europa gibt es viele gewiefte Burschen, die sich auf EU-Krisen freuen, weil sie darin schon den nächsten großen Sprung nach vorn wittern. Sie sagen, Europa wachse gerade in der Krise – über sich hinaus und enger zusammen. Sie sind Optimisten und gehen vom Ziel einer immer engeren und stabileren Union aus, das dem Einigungsprozess eingeschrieben sei.
Dahinter steckt ein Geschichtsbild, das von Fukuyamas vielgescholtenem Diktum vom „Ende der Geschichte“ gar nicht so weit entfernt ist. Noch den herben Rückschlag will es als scheinbaren entlarven, da dieser in Wahrheit doch nur den nächsten Schritt zum Besseren vorbereite. Jede Turbulenz wird mit Sinn beladen, eingetaktet in die voranschreitende Geschichtslogik; liberal und fortschrittsoptimistisch ist diese Deutung.
Katechon und Kairos
Wie man die Krise liest, hängt von der dahinter stehenden Geschichtsphilosophie ab, mithin vom politischen Standpunkt. Konservative und Autoren der Gegenrevolution betonen gern die „Große Parallele“ zwischen Antike und Moderne; demnach befinden wir uns heute in der letzten Phase der Spätantike, vorbereitet durch das Zeitalter der Massen und Technik; beides Intimfeinde der Kultur.
Mit Carl Schmitt suchen sie händeringend nach dem „Katechon“, der den Antichristen aufhält, sich dem Niedergang entgegenstemmt und ihn hinauszögern kann. Geschichte ist Verfall. Und das Abendland, sofern es nicht zu seiner Wehrhaftigkeit findet, ist dem Untergang geweiht.
Einige sehnen sich nach dem Ausbruch, nach dem großen Sprung nicht nach vorn, sondern aus dem verruchten Kontinuum der Geschichte heraus. Ihnen ist es, als schleppten wir uns bloß von Krise zu Krise, ziellos, nur um das reinigende Gewitter aufzuschieben. Darin sind sich Revolutionäre und Gegenrevolutionäre seltsam einig.
Sie lesen die Krise als „Kairos“, als Zeitpunkt, an dem sich alles verdichtet, auf den nun alles ankommt. Nutzt man ihn, so kann die Ordnung durchbrochen werden – bei Revolutionären verbunden mit der Hoffnung auf das ganz Andere, während Reaktionäre die Wiederherstellung eines verlorengegangenen Goldenen Zeitalters im Sinn haben – etwa der Schriftsteller Botho Strauß, der alle Jahre wieder einen geistesaristokratischen Essay für den SPIEGEL schreibt.
Zu den Revolutionären können wir den französischen Philosophen Alain Badiou zählen, der eine Philosophie des Ereignisses vorgelegt hat, das die Seinsordnung aufsprengt und Neues, bislang Ungeahntes möglich macht.
Katastrophe und Katharsis
Politisch schwieriger zu verorten ist der italienische Philosoph Giorgio Agamben. In einem Interview äußerte er sich kürzlich zur europäischen Krise; sein Urteil: „Europa muss untergehen!“. Es müsse erst zergehen, um dann wie der Phoenix aus der Asche aufzusteigen. Jedem Neugeborenwerden geht ein Sterben voraus; zuerst die Katastrophe, dann die Katharsis.
An das Europa unserer Tage scheint er nicht mehr zu glauben. Aber das abendländische Erbe, darauf kommt es ihm jetzt an, denn „wirklich aktuell und dringlich wird etwas genau dann, wenn es ausgedient hat. Denn erst jetzt zeigt es sich in seiner ganzen Fülle und Wahrheit.“ Er ist ungeduldig, will das europäische Wesen bestimmen, doch dafür braucht er zunächst einmal dessen Ende.
(Fortsetzung hier)
Andreas Meyer
15. Dezember 2015 @ 21:04
@S.B. @Andreas Meyer
Gerade hat Norbert Häring seinen Artikel “Die Euro-Krise wurde von den Eliten fehlerfrei bewältigt” veröffentlicht (http://norberthaering.de/de/27-german/news/510-eurokrise-eliten#weiterlesen).
Zufall – das war’s was ich so ungefähr mit meinem Kommentar sagen wollte – aus deutscher Sicht wurde und wird derzeit alles bestens gemeistert.
Andreas Meyer
15. Dezember 2015 @ 13:54
Die EU wird sicher weiter existieren, trotz der Krise seiner Institutionen und vieler anderer offensichtlicher gravierender Mängel und Probleme. Selbst nach einem Brexit. Nur wird sie sich nicht im Sinne von Delors weiterentwickeln, wenn überhaupt. Kein Plan-B “linker” Strömungen wird diese neoliberale Lähmung beeinflussen können, noch die sozialistischen/sozialdemokratischen Parteien in Frankreich und Italien. Die nächste Finanzkrise wird kommen und es werden wieder die Schwächsten und Ärmsten für die “Feste” der Banker und Investmentfonds zahlen müssen, denn die (bestens bekannten) Mängel der globalen und eng verschlungenen Finanzmärkte existieren weiter. Z.B. der viel gelobte Single Resolution Mechanism (SRM): er sieht ein Bail-In letztendlich nur in Höhe von 8% vor. Den restlichen Fehlbetrag einer Bankenkrise müsste wieder die öffentliche Hand übernehmen. Stattsfinanzierung ist verboten, aber QE ist im vollen Gange. Es werden dringend Investitionen in nachhaltige Industrien und Wirtschaft benötigt. Tatsächlich überflutet QE aber nur die Banken. Neue Bubbles und durch Spekulationen ausgelöste Krisen sind vorprogrammiert.
Ohne Vision und ohne die Bereitschaft zu einem Transfer von Kapital und Risiko innerhalb der EU wird die gnadenlose neoliberale Wirtschaft fortfahren wie bisher – wie in den letzten 25 Jahren, ohne Konvergenz, mit viel zu wenig nachhaltigen Investitionen und schwacher Förderung der wissenschaftlichen Einrichtungen. Vielleicht mit ein paar kosmetischen Anpassungen zum Schein. Mehr als 170 Milliarden Euro gehen jedes Jahr in der EU durch Tax-Avoidance und Steuerbetrug verloren. Betrug und Steuerhinterziehung sind auch in Deutschland ein gravierendes Problem (vor allem in Bayern, ja tatsächlich – es fehlen dort Steuerfahnder – siehe Artikel von Harald Schumann im Tagesspiegel). Die Vormachtstellung Deutschlands in der Eurozone ist im Wesentlichen darauf bedacht, den Status quo in Deutschland und den nördlichen Wohlstandsgesellschaften zu “konservieren” – wirkliche europäische Visionen fehlen. Nicht Umsonst werden CDU/CSU “konservative” Parteien genannt. Deren Ziel ist es, die “Vorteile” der EU für die eigenen Zwecke zu optimieren und zu sichern. Nur so lässt sich die Politik und die Narrative der letzten 5 Jahre deuten. Jörg Asumussen hat es in einem Interview bestätigt: soziale Aspekte spielten in den Rettungspaketen für Griechenland und Portugal keine Rolle. Für Herrn Schäuble sind “Regeln”, extreme Sparmaßnahmen bei gleichzeitiger Rückzahlung der Schulden, sowie die Wiedererlangung des “Marktzuganges” für die sog. Programmländer wichtiger als soziale Aspekte bzw. sozialpolitische Aspekte. So werden Nationen gegeneinander aufgebracht. Wie bekannt ist, haben deutsche Banken, Versicherungen und Rüstungsunternehmen bestens von den harten Konditionen der “Hilfsprogramme profitiert”. Das EU-Parlament hat in einem Untersuchungsbericht (2014) der Troika gravierende Fehler und Mängel attestiert. Geändert hat sich seitdem so gut wie nichts.
Die Sozialdemokratie im Sinne Helmut Schmidts existiert nicht mehr (siehe seine diversen Beiträge zu diesem Thema in den letzten Jahren). Merkels Rede auf dem CDU-PT15 mangelte es trauriger Weise an dem notwendigen Feingefühl gegenüber unseren griechischen Mitbürgern. Die Hauptakteure von #ThisIsACoup – der lakonische und manchmal sehr gallige Schäuble und T. Wieser – verstecken ihre Arroganz nicht einmal vor der Öffentlichkeit (siehe Interviews und Pressekonferenzen). Es wird also kein gerechtes und solidarisches Europa geben, solange die Deutschen mehrheitlich meinen, es geht ihnen zu gut, und die “anderen” seien selbst Schuld an ihrer Lage. Auch nicht solange in den Medien diese Narrative einseitig verbreitet wird und die vorherrschende Berichterstattung zu diesen Themen zu regierungsnah ist. Es wird daher auf absehbare Zeit beim Status quo in Europa bleiben.
S.B.
15. Dezember 2015 @ 11:42
“Wie umgehen damit?” – Wenn ich das wüsste… Man steht dieser desolaten Gesamtsituation doch weitgehend rat- und auch machtlos gegenüber. Die Benutzung des gesunden Menschenverstands scheint aus der Mode gekommen zu sein. Was soll man dagegen machen?
ebo
15. Dezember 2015 @ 11:48
…vielleicht FAZ lesen. Da stand heute ein guter Leitartikel zur deutschen Flüchtlingspolitik und der freiwilligen Aufgabe aller Grenzen. Ansonsten bis Frühjahr warten, dann wird sich zeigen, ob die neuen Dämme (Türkei, Frontex, Lage in Griechenland, Balkanzäune etc.) halten…
S.B.
15. Dezember 2015 @ 12:54
Die Fakten offenbaren doch die politische Marschrichtung. Um dazu zu erkennen, muss man keine Zeitung mehr lesen. Auch die FAZ bietet leider nur noch selten Lichtblicke und schwimmt im Wesentlichen im linksgrünen, politisch-korrekten Mainstream mit. Zu den “Flüchtlingen”: Mit Speck fängt man Mäuse. Legt man den Speck nicht beiseite, was ja das einfachste wäre, nutzt auf Dauer auch keine Grenze was. Unabhängig von diesem Thema, spricht der Gastbeitrag ja zurecht eine Gemengelage verschiedener Krisenherde des Systems an, die systemrelevant sind und nicht mehr beherrschbar scheinen. Die Flüchtlinge sind insoweit nur eine Facette. Also eine schöne Zeit ist das nicht, in der wir leben. Jedenfalls nicht, wenn man nicht nur als Konsumschaf durch die Gegen määääääht.
S.B.
15. Dezember 2015 @ 14:45
@Andreas Meyer sagt: “Die nächste Finanzkrise wird kommen und es werden wieder die Schwächsten und Ärmsten für die „Feste“ der Banker und Investmentfonds zahlen müssen, denn die (bestens bekannten) Mängel der globalen und eng verschlungenen Finanzmärkte existieren weiter.”
Da haben Sie vollkommen Recht! Leider übersehen Sie dabei völlig, dass die Linken voll mitverantwortlich für diese Entwicklung sind, ja sie sogar zu den großen Profiteuren gehören.
Insofern geht Ihre Anmerkung “Kein Plan-B „linker“ Strömungen wird diese neoliberale Lähmung beeinflussen können, noch die sozialistischen/sozialdemokratischen Parteien in Frankreich und Italien.” auch völlig fehl. Selbstverständlich haben die Linken keinen Plan B. Meinen Sie das ist Zufall? Natürlich nicht. Denn Plan A ist der, von dem sie am meisten profitieren. Die Linken sind Teil dieser neoliberalen Lähmung!
Nun dürfen Sie zurecht einmal fragen, ob “die Linken”, die sich als solche ausgeben, denn auch wirklich welche sind. Die Antwort sollte Sie ent-täuschen.
Andreas Meyer
15. Dezember 2015 @ 19:48
@S.B. Vielen Dank für Ihre Rückmeldung. Was bringt Sie zu der Ansicht, dass die “Linken” selber mitverantwortlich, ja sogar Profiteure seien und dass viele “Linke” keine wirklichen “Linken” seien? Haben Sie Beispiele?
In Griechenland z.B. haben wir in diesem Sommer einen sehr scharfen und ernsten Konflikt gesehen, der mit allen “Waffen” (Bankenschliessung, Medienkampagnen über Brüssel-Leaks, Rufmordkampagne, etc.) geführt wurde. Der Premierminister sprach im griechischen Fernsehen nach dem 13.07. von einer Erpressung. Im September hat die Partei “Popular Unity” von P. Lafazanis – Partei welche offen die Rückkehr zur einer eigenständigen Währung fordert, kaum mehr als 2% erhalten. https://en.wikipedia.org/wiki/Popular_Unity_(Greece) ; http://orf.at/stories/2294785/2294784/
Desweiteren leisten viele Mitglieder der Linken und der Grünen wertvolle Arbeit im Deutschen Parlament und im EU-Parlament.
Davon abgesehen, habe ich den Begriff “Linke” in meinem vorherigen Beitrag absichtlich in Anführungsstriche gesetzt, da er nicht formell definiert ist.
Freiberufler
15. Dezember 2015 @ 11:21
Dass nur ein allmächtiger Superstaat den bellum omnium contra omnes (Krieg aller gegen alle) verhindern könne, hat Thomas Hobbes schon 1651 behauptet. Das ist reinste absolutistische Staatsheorie und spätestens seit 1789 tot. Der Leviathan hat in einer Demokratie nichts zu suchen.
Peter Nemschak
14. Dezember 2015 @ 17:58
“Prognosen sind schwer, besonders wenn sie die Zukunft betreffen” (Karl Valentin, Mark Twain, Winston Churchill, Niels Bohr, Kurt Tucholsky u.a.), insbesondere dann, wenn man den Lauf der Geschichte als eine Aneinanderreihung unbeabsichtigter Nebenwirkungen menschlichen Handelns begreift.