Krise ohne Ende? (II)

In und um Europa spitzen sich die Dinge zu. Die EU kommt gar nicht mehr heraus aus dem Krisenmodus, gleichzeitig wiederholt Kanzlerin Merkel ihr trotziges “Wir schaffen das”. Wie umgehen damit? (2/2)

Von Moritz Rudolph

Die Krisenerfahrung ist keineswegs neu; Linke haben sich längst an sie gewöhnt, denn sie leben seit jeher mit dem Gefühl, dass unsere Zeit krisenhaft ist. Die Marxisten unter ihnen bestimmen das Kapitalverhältnis seinem Wesen nach als Krise; und das nicht nur, wenn der Akkumulationsprozess ins Stocken gerät.

Auch und gerade, wenn das Kapital prächtig arbeitet, stellt es das, was bislang da war, radikal infrage: „Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht“ (Marx). Einfach so; und dann muss man sehen, wo man bleibt. Die Menschen fragen sich dann, wie man mit dem unentwegten Voranstürmen umgehen soll und sie finden verschiedene Antworten.

Kontingenz und Kritik

“Never waste a crisis!”, heißt es gutgelaunt aus der linken Ecke und sie hören sich dabei an wie Liberale, die die „Krise als Chance“ begreifen wollen. In jedem Fall ist die Krise ein Punkt radikaler Kontingenz; an ihm angelangt, kommt eine Bewegung in die Geschichte, die man vorher nicht für möglich gehalten hat. Sie trotzt den Betroffenen Antworten ab, von denen das Jahr 2015 voll war.

In mindestens zwei Lager lassen sie sich einteilen: Zunächst gehörte die Bühne jenen Kräften, die sich um einen emanzipatorische Ausweg aus der Krise bemühten, allen voran Syriza und Podemos, denen es gelang, im Angesicht der ökonomischen Misere politische Leidenschaften zu mobilisieren. Im Spätsommer drohte Syriza jedoch in die Knie gezwungen zu werden, die europäische Sparfront war einfach zu mächtig.

Doch diese griechische Regierung, der auch die „Unabhängigen Griechen“ angehören, birgt bereits den Keim einer zweiten Krisenantwort in sich: die von rechts. Im Sturmlauf enterten die Rechtspopulisten, mitunter sogar harte Faschisten, das politische Spektrum Europas – in Dänemark, der Schweiz, Polen, bis hin zum Erfolg des Front National bei den französischen Regionalwahlen. Was kommt da noch?

Gültig bleibt hier Walter Benjamins Einsicht, dass jeder Aufstieg des Faschismus von einer gescheiterten Revolution zeugt, die die Linke in den Sand gesetzt hat. Doch Benjamin war es auch, der die Revolution als Griff nach der Notbremse verstand, um das verruchte Kontinuum der Geschichte aufzusprengen.

Kein optimistisch-aktivistisches „Brüder, zur Sonne, zu Freiheit!“ kann da noch das Credo sein, sondern bloß die Verhinderung der Katastrophe. Denn nicht jede Abschaffung der bürgerlichen Gesellschaft ist schon deren Aufhebung. Im Gegenteil: Nur allzu oft bereitet der Sprung aus ihr heraus oder nach vorn dem Rückfall ins Archaische den Boden – Barbarei auf höchstem Niveau.

Was dann noch bleibt, ist Kritik. Die Etymologie scheint ihr Recht zu geben: „Krise“ bedeutet „Zuspitzung“ oder „Entscheidung“ und geht auf das Verbum „krinein“ zurück, das soviel bedeutet wie „trennen“ oder „unterscheiden“; von ihm ist auch der Begriff „Kritik“ abgeleitet.

Kritik wäre dann der Versuch, bei politischer Zuspitzung sehr genau auseinanderzuhalten, was davon emanzipatorische Aufhebung und was bloß noch barbarische Abschaffung bedeutet. Auch die Linksparteien müssen sich diese penible Untersuchung gefallen lassen.

In und um Europa steuern wir sehr interessanten Zeiten entgegen, die im chinesischen Horoskop keinem gewünscht werden. In ihnen ist „die Waffe der Kritik“ (Marx) vielleicht die einzige, die uns hilft; mehr noch als die Aktion.

(Teil eins steht hier)