Kriegsangst made in Washington, Klimafrust made in Brussels – und Rückstand bei 5G
Die Watchlist EUropa vom 25. Januar 2022 –
Bisher war es Russland, das mit seinem Truppenaufmarsch in der Nähe der Ukraine für Kriegsangst sorgte. Doch nun haben sich die Verhältnisse in ihr Gegenteil verkehrt. Jetzt gehen die Spannungen von den USA und der Nato aus, sogar die Märkte werden nervös.
Die USA kündigten am Montag an, einen Teil ihres Botschaftspersonals in Kiew abzuziehen. Dies gilt als Signal, dass Washington mit Krieg rechnet. Was sie zu dem Schritt bewegte, sagte die US-Regierung nicht.
Demgegenüber erklärte die EU, sie wolle vorerst keine Diplomaten abziehen – und sehe auch keine akute Kriegsgefahr. “Ich denke, nicht, dass wir dramatisieren müssen”, sagte der Außenbeauftragte Borrell.
“Man muss ruhig bleiben und das Nötige tun, aber einen Nervenzusammenbruch vermeiden”, erklärte er nach einem Treffen der EU-Außenminister. Von Evakuierungen könne gar keine Rede sein.
Doch da war es schon zu spät.
Die Aktienmärkte hatten einen “Nervenzusammenbruch” erlitten. Sie fürchten nicht nur die Inflation und die nahende Zinserhöhung in den USA – sondern auch den (seit November angekündigten) Krieg.
Stoltenberg schlägt Alarm – warum?
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Auch die Nato heizt die Stimmung an. Generalsekretär Stoltenberg plant plötzlich eine Truppenaufstockung in Osteuropa. Beteiligt sind neben den USA auch Dänemark, Spanien, Frankreich und die Niederlande.
Die Nato sei in Alarmbereitschaft, so Stoltenberg. Warum er das sagte, blieb im Dunkeln. Hat ihn die US-Regierung darum gebeten – oder gibt es konkrete Hinweise auf einen nahenden russischen Einmarsch in der Ukraine?
Nein, diese Hinweise gebe es nicht, betonten die EU-Außenminister. Im Gegenteil, man sei gerade dabei, den Dialog mit Russland zu suchen. Am Mittwoch soll es in Paris ein Treffen im Normandie-Format geben – ein erster diplomatischer Erfolg!
EU-Ansatz macht Washington nervös
Meine Vermutung ist, dass es just diese zarten Vermittlungsversuche der EUropäer sind, die die Amerikaner nervös machen. Wenn sie schon mit Moskau verhandeln, dann aus einer Position der Stärke, scheint man sich in Washington zu sagen.
Zudem sorgen sich die USA offenbar darum, dass die EU einen eigenen Ansatz in der Sicherheitspolitik suchen könnte, wie dies Frankreichs Präsident Macron lautstark fordert. Am Abend schaltete sich denn auch noch US-Präsident Biden ein.
Er setzte überraschend eine Videokonferenz an, an der neben Macron auch Kanzler Scholz, Premier Johnson, Nato-General Stoltenberg und Kommissionschefin von der Leyen geladen waren. Offenbar will er die EU an der kurzen Leine führen…
Siehe auch Wie real ist die Kriegsgefahr? und “Die Falken stürzen sich auf Biden und Macron”
P.S. Das US-Verteidigungsministerium hat 8500 Soldaten in “erhöhte Alarmbereitschaft” versetzt. Die meisten der Soldaten könnten im Rahmen der schnellen Eingreiftruppe der Nato eingesetzt werden, hieß es. Bislang sei aber noch keine Entscheidung getroffen worden. Warum auch? Das Pentagon bleibt die Erklärung schuldig…
Watchlist
Wie sauer ist Klimaminister Habeck auf EU-Kommissionschefin von der Leyen? Das dürfte sich am Dienstag bei seinem Antrittsbesuch in der Kommission zeigen. Für Streit sorgt die sogenannte Taxonomie, die Atom und Gas als “nachhaltig” einstuft. Habeck lehnt das “greening” von Atom ab und droht nun mit einem deutschen Nein. Allerdings reicht es bisher nicht für die nötige Abwehrfront von 20 EU-Ländern…
Was fehlt
Tempo bei 5G. Der Ausbau des neuen Mobilfunkstandards 5G kommt in vielen EU-Staaten nur langsam voran. „Insgesamt ergab die Prüfung, dass sich der Ausbau der 5G-Netze durch die Mitgliedstaaten (…) erheblich verzögert”, heißt in einem Bericht des EU-Rechnungshofs. In Deutschland und 10 weiteren Staaten sieht der Rechnungshof bestenfalls eine mittlere Wahrscheinlichkeit, dass die EU-Ziele erreicht werden.
Kostas Kipuros
25. Januar 2022 @ 08:52
Ich teile Ihre Vermutung, dass der Versuch einer europäischen Initiative, um den Konflikt zu entschärfen, die US-Administration aufgeschreckt hat. Für Russland wiederum ist es eine positive Aussicht, nun auch mit der EU verhandeln zu können und damit den nicht öffentlich ausgetragenen, dennoch bestehenden Interessenkonflikt zwischen Washington und Brüssel zu seinem Vorteil zu nutzen und sich damit weitere Optionen offen zu halten. Natürlich ist es beschämend und reichlich spät, wenn die Europäer erst jetzt die Chance und Notwendigkeit des Normandieformates erkennen – aber immerhin gewinnt offensichtlich die Überzeugung an Einfluss, ohne diese Initiative von den Ereignissen komplett überrollt zu werden. Leider haben das unsere Medien noch nicht erkannt: Ich glaubte mich heute früh beim Hören des Deutschland-Radios verhört zu haben, als der Moderater tatsächlich und wörtlich äußerte, dass Russland der Ukraine mit Krieg droht. Die Macht des Faktischen hat sich glücklicherweise bislang (fast) immer durchgesetzt, was im konkreten Fall meint: Der Westen wird perspektivisch nicht umhin können, legitimen russischen Sicherheitsinteressen Rechnung zu tragen. Da er dies (noch) nicht öffentlich kommunizieren kann/will, muss der Erkenntnisgewinn mit propagandistischem Getöse vertuscht und kompensiert werden. Gefährlich bleibt die Lage freilich dennoch.