Kranker Mann Deutschland, Regierungskrise in Italien – und Risiken für den Euro
Was bleibt von der Europapolitik der vergangenen Woche? Deutschland droht eine Rezession. Italien schlittert in die Regierungskrise. Und der Euro schwächelt – die Eurozone ist offenbar schlecht für die neue Lage gerüstet.
Es könnte durchaus sein, dass die vergangene Woche den Beginn einer neuen Eurokrise markiert. Angefangen hat es mit einem weiteren Schwächeanfall der Gemeinschaftswährung – der Euro sackte auf Parität mit dem US-Dollar ab. Analysten sehen darin ein Zeichen, dass die Eurozone stärker unter dem Ukraine-Krieg, den Sanktionen und ihren Folgen leidet als die USA.
Dann hat die EU-Kommission ihre Konjunkturprognose für die Eurozone nach unten korrigiert. Das Wachstum soll im laufenden Jahr mit 2,6 Prozent noch schwächer ausfallen. Die Inflation steigt mit 7,6 Prozent auf einen historischen Höchstwert.
Schließlich hat auch noch Italiens Regierungschef Mario Draghi seinen Rücktritt erklärt. Der wurde zwar nicht angenommen. Doch nun schlittert ausgerechnet das wichtigste und zugleich wirtschaftlich labilste südeuropäische Land in eine Regierungskrise.
Das Risiko sei hoch, dass Rom nicht mehr in der Lage sei, Reformen umzusetzen und sich vorwärts zu bewegen, sagte Lars Feld, Berater von Bundesfinanzminister Christian Lindner im Interview der Zeitung “La Repubblica”. “Das macht mir große Sorgen.”
Deutschland verliert sein Geschäftsmodell
Italien ist aber nicht das einzige Problem. Der “kranke Mann” der EU ist vielmehr Deutschland. Das wichtigste Land der Eurozone erlebt gerade den Zusammenbruch seines Geschäftsmodells, das auf billiger Energie aus Russland und auf Exporten beruhte.
Infolge des Krieges in der Ukraine, aber auch der US- und EU-Sanktionen wackeln nun beide Säulen der deutschen Wirtschaftspolitik. Wenn Gazprom die Ostseepipeline Nord Stream 1 nicht bald wieder aufmacht, droht der Absturz in die Rezession.
Eurogruppe will Gürtel enger schnallen
Die Bundesregierung hat den Ernst der Lage jedoch nicht erkannt. So behauptet die Parlamentarische Staatssekretärin im Bundesministerium für Wirtschaft, Brantner, nicht Deutschland, sondern Russland verliere den Wirtschaftskrieg.
Auch die EU ist nicht vorbereitet – im Gegenteil. Ausgerechnet jetzt will die Europäische Zentralbank die Zinsen erhöhen, was das Wachstum weiter dämpft. Und die Eurogruppe verabschiedet sich von der expansiven Fiskalpolitik.
Sie fordert alle Länder auf, ab 2023 den Gürtel enger zu schnallen und die Schulden zurückzufahren. Damit folgt sie den Wünschen Lindners, der zurück zur deutschen Schuldenbremse will. Nur für Arme soll es noch spezielle Hilfen geben…
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Was war noch? Die EU-Kommission hat ihren dritten Bericht zum Rechtsstaat vorgelegt. Zum ersten Mal enthält er auch konkrete Empfehlungen. So soll Deutschland seine Richter besser bezahlen und die “Drehtür” zwischen Politik und Wirtschaft besser kontrollieren.
Außerdem ist ein Entwurf für den Notfallplan Gas durchgesickert, den die Kommission am kommenden Mittwoch vorlegen will: Wichtigste Maßnahme: die Senkung der Heiztemperatur in Büros und öffentlichen Gebäuden auf 19 Grad.
Wenn den Eurokraten nicht mehr einfällt, steht uns ein schwerer Winter bevor…
Siehe dazu auch “Offenbarungseid aus Brüssel”. Mehr Chroniken hier. Abonnement per Mail (kostenlos) hier. Und hier noch die drei besten Blogposts der vergangenen Woche:
Bidens außenpolitische Bilanz: Es ging nie um die Ukraine
Krisen, Kriege und Verdacht auf Völkermord in Gaza: Zum Ende der Amtszeit von US-Präsident Biden versinkt die Welt im Chaos. Biden findet seine Bilanz trotzdem gut – dabei ging die US-Politik zulasten der Ukraine und der EU.
Hat die Ukraine auch die TurkStream-Pipeline angegriffen?
Russland behauptet, die Ukraine habe die TurkStream-Pipeline angegriffen, über die russisches Gas via Türkei nach Osteuropa fließt. Die EU und die Nato schweigen.
Bundeswehr stellt sich auf großen Krieg ein
Schon jetzt ist Deutschland ein Drehkreuz für den Ukraine-Krieg. Doch nun stellt sich die Bundeswehr auf einen weiteren, noch größeren Konflikt ein.
european
16. Juli 2022 @ 17:10
Lars Feld vertritt eine ökonomische Glaubenslehre, die sehr deutsch und sehr überholt ist. Hans Werner Sinn in jung oder so. Ich kann nicht glauben, dass dieser Quatsch immer noch wiederholt wird, nachdem er sich erwiesenermaßen als falsch herausgestellt hat. Insbesondere Deutschland sollte sowieso ganz still sein. Das Land hat seit Jahrzehnten nichts reformiert. Man denke nur an das Drama mit den Faxen in der Coronakrise.
Kein Land der Eurozone hat so viel reformiert und gespart wie Italien. Dazu empfehle ich die Studien von Philip Heimberger. Ich bin nicht mehr auf Twitter, aber jeder Twitterling sollte sich das durchlesen.
https://twitter.com/heimbergecon/status/1357965442824962048
Als Artikel kann man vieles auch hier nachlesen:
https://socialeurope.eu/seven-surprising-facts-about-the-italian-economy
Des weiteren gibt es ein ganz aktuelles Interview auf Geld für die Welt mit ihm.
https://www.youtube.com/watch?v=AYX17Fvr2Ek
Es gibt auch entsprechende Ausführungen von Ulrike Herrmann.
Ich bin sehr gespannt, wann die deutsche Presse die PIGS wieder ausgräbt, die alle nur auf unsere Kosten leben usw usw.
Ich hab mich schon oft gefragt, wie es unsere europäischen Nachbarn mit uns aushalten können. Über das, was so über die deutschen Grenzen schwappt, habe ich mich schon sehr oft wirklich in Grund und Boden geschämt.
Italien wird in absehbarer Zeit wählen. Es sieht nicht besonders gut aus.
ebo
16. Juli 2022 @ 19:17
Keine Sorge, ich bin kein Fan von Feld. Aber er ist der einzige, der sich vorwagt. Und die Spreads gehen auch hoch. Das Hauptproblem sehe ich aber tatsächlich in Deutschland
european
16. Juli 2022 @ 23:27
Es ist kein Gewinn, wenn jemand sich mit einer erwiesenermaßen falschen Lehre vorwagt.
Flassbeck spricht seit mindestens der Finanzkrise darüber, was in der Eurozone alles falsch läuft. Übrigens auch in Italien, aber darüber berichten die deutschen Medien nicht. Das enfant terrible der deutschen Ökonomie wird, wie so oft, auch hier wieder recht behalten.
https://www.youtube.com/watch?v=qciVozNtCDM
In einer Währungsunion darf es keine Spreads geben. Die Politik sorgt dafür, dass diese Spreads existieren, indem sie Gerüchte schürt und die Finanzmärkte nehmen sie dankbar auf. Wir liefern gewissermaßen die Spekulationsbasis frei Haus.
Ich bezweifle, dass Feld in Italien damit auf guten Boden fällt. Rechtsaußen ist auf dem Vormarsch und die haben einfach keine Lust mehr auf Schlaumeier nördlich der Alpen.
Nur nebenbei: Als vdL trotz Corona noch in süßen Träumen lag, war es Russland, das 15 Flugzeuge mit Hilfsgütern einschließlich eines komplett ausgestatteten Feldlazaretts nach Italien geschickt hat, als dort die Armee die Särge nur noch so herausgekarrt hat. Merkel hat zu diesem Zeitpunkt noch überlegt, ob man überhaupt irgendetwas tun sollte. Ich kann mich an eine BPK erinnern, in der sie sagte, dass sie mit Conte telefoniert. Mehr war da nicht.
Aber auch darüber spricht man nicht so gern auf Parties. Wir sind ja schließlich immer die Guten 😉