Ketzerische Gedanken zu Johnson und zum Brexit

Nun ist es offiziell: Ex-Außenminister Boris Johnson wird der nächste britische Premier. Damit wird ein harter Brexit noch wahrscheinlicher. Die EU ist nicht ganz unschuldig daran, dass es so weit gekommen ist. Sie hätten sich früher bewegen müssen.

Wie bitte? Die Europäer haben doch alles Menschenmögliche unternommen, um “Mays Deal” für den EU-Austritt abzuschließen – es war ja auch der einzig mögliche Deal, nicht wahr? So geht der offizielle Diskurs, in Berlin genau wie in Brüssel. Doch er stimmt nicht.

  • Erstens war es nicht “Mays Deal”, sondern ein Barnier-und-Weyand-Deal (so hießen die beiden Brüsseler Unterhändler), der fast ausschließlich die europäische Handschrift trug. Weil sich die Briten nicht durchsetzen konnten, ist Johnson ausgestiegen!
  • Zweitens hätte die EU durchaus eine Chance gehabt, ihren Deal umzusetzen – wenn sie May entgegengekommen wäre. Die Premierministerin hatte für Nachverhandlungen ein Mandat der Unterhauses in London, doch Brüssel sagte “No”.

Deshalb ist die EU jetzt auch Mitschuld daran, dass May geht und Johnson kommt. Den Europäern war ihre Einheit wichtiger als eine Lösung des Brexit-Problems – was durchaus verständlich ist, aber nun unschöne und kaum beherrschbare Folgen hat.

Damit meine ich nicht nur die Tatsache, dass man künftig mit einem unberechenbaren Hasardeur verhandeln muß, der ein Chaos-Bündnis mit US-Präsident Donald Trump eingehen könnte. Der preist Johnson schon als “britischen Trump”…

Unschön ist auch, dass sich ab sofort wieder alles in der EU um den britischen Exit drehen wird. Der “Brexit break”, den sich Kommissionschef Juncker für die Zeit der Europawahl verordnet hat, ist beendet. Auch Nachfolgerin von der Leyen muss nun ‘ran.

Sogar das Europaparlament erwacht aus dem Tiefschlaf. Die Abgeordneten haben es bisher nicht einmal geschafft, das Austritts-Abkommen zu ratifizieren. Immerhin: Am Mittwoch wollen die Abgeordneten über die neue Lage diskutieren.

Vielleicht sollten sie mit der Frage anfangen, wie es eigentlich dazu kommen konnte, dass auch die Briten an der Europawahl teilgenommen haben, und dass nun dutzende Abgeordnete auf Abruf in ihren Reihen sitzen!?

Siehe auch “Planlos in den harten Brexit” und “Die Wahl-Farce ist perfekt”

“Die EU müßte sich bewegen”

Als kleinen “Reminder” bringe ich hier noch einmal einen Blogpost vom 19.März. Er trug den Titel: “Die EU müßte sich bewegen” und entstand zu einer Zeit, da May noch am Ruder war.

Die Briten müssen endlich sagen, was sie wollen! So tönt es tagaus, tagein in Brüssel und Berlin. Richtig ist, dass das britische Unterhaus einen gefährlichen Schlingerkurs fährt. Falsch ist jedoch, dass es keine klare Ansage aus London gäbe.

So war der Speaker des Unterhauses “cristal clear”, als er die von der Regierung geplante erneute (dritte) Abstimmung über den Austrittsvertrages ablehnte. Man könne nicht mehrfach über denselben Text abstimmen, sagte er. Es müsse Änderungen geben. Zitat aus dem “Guardian”:

It must be “not different in terms of wording, but different in terms of substance”, he said, suggesting there must be a change in what the EU is offering.

Im Klartext: Die EU muß sich bewegen, damit das Unterhaus erneut über den Vertrag abstimmen kann. Ich finde, das sollten unsere Medien und Politiker zumindest einmal zur Kenntnis nehmen. Was zu tun wäre, hat Premierministerin Theresa May bereits hinreichend klar gemacht.

Die EU müßte

  • Den Austrittsvertrag noch einmal aufmachen;
  • Den Backstop für Irland ändern, z.B. befristen;
  • Garantien geben, dass Nordirland nicht anders behandelt wird als der Rest Großbritanniens.

Das Problem ist allerdings, dass die EU sich weigert, dies zu tun. Sie spielt den Ball nach London zurück – in der Hoffnung, dass May den unveränderten Vertrag doch noch irgendwie durchs Parlament bringt. Genau das hat nun ein “constitutional chaos” in London ausgelöst, wie der  “Guardian” schreibt.

Und diese von Brüssel mitverursachte Institutionen-Krise soll nun wohl als Begründung dienen, um eine monatelange, wenn nicht jahrelange Verzögerung des Brexit zu begründen…

Siehe auch “Gefangen im Hotel California”