Türkei: Interessen über Werte
Schon wieder hat die Türkei ein Ultimatum gestellt. Und schon wieder reagiert die EU halbherzig: Statt Sultan Erdogan zurechtzuweisen, halten Brüssel und Berlin am Status quo fest. Warum?
Die Antwort ist leicht zu finden, auch wenn die deutschen Medien ein Geheimnis daraus machen und die Machtergreifung von Erdogans AKP in der Türkei zu einer deutsch-türkischen Affäre erklären:
Kanzlerin Merkel und ihre Follower in Brüssel schätzen ihr Interesse an und in der Türkei höher ein als die viel beschworenen europäischen Werte. Flüchtlinge stoppen ist wichtiger als Erdogan stoppen!
Es ist Realpolitik in Reinkultur, allerdings mit zunehmend irrealen Grundlagen. Denn wenn die EU Erdogan weiter gewähren lässt, wird sie bald sowohl ihre Werte als auch ihre Interessen verraten haben.
Denn der Sultan lauert nur auf eine Gelegenheit, den schmutzigen Flüchtlingsdeal zu kündigen und der EU (und der Nato) eins auszuwischen, IS-Terroristen inklusive.
Es wäre daher höchste Zeit, Erdogan in die Schranken zu weisen und z.B. die Schein-Beitrittsverhandlungen auszusetzen. Gleichzeitig sollte die EU türkischen Journalisten und anderen Verfolgten Asyl gewähren.
Doch das wagt die EU nicht. Vielmehr versucht sie, angetrieben von Merkel, die Kriterien für die Visa-Liberalisierung so weit aufzuweichen, dass Erdogan doch noch seinen Willen bekommt…
Peter Nemschak
4. August 2016 @ 10:06
@ebo Die Türkei ist von der EU wirtschaftlich sehr abhängig. Das weiß auch Erdogan. Daher wird er voraussichtlich hinsichtlich das Flüchtlingsabkommen nicht kündigen, selbst wenn er die Visafreiheit nicht durchsetzen kann. Im Grunde braucht die EU nicht aufgeregt zu sein, sondern muss die Nerven bewahren. Was Erdogan innenpolitisch macht, ist seine Sache. Werteabsolutismus ist in der internationalen Politik hinderlich, um nicht zu sagen kontraproduktiv.
ebo
4. August 2016 @ 11:01
@Nemschak Ist Österreichs neuer Kanzler Kern auch ein Menschenrechtsfanatiker? Er fordert nun, den Abbruch der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei zu erwägen. Nicht mehr und nicht weniger würde ich von Merkel erwarten, zumal ihre eigene Menschenrechtsbeauftragte der Türkei ein rabenschwarzes Zeugnis ausstellt…
Skyjumper
4. August 2016 @ 12:46
@Peter Nemschak
Mit dem Wort “abhängig” wäre ich vorsichtig. Ja, natürlich ist es für die Türkei von größerer Bedeutung als für die EU das der Handel weiter floriert. Aber umfangreiche Handelsbeziehungen bedeuten im Fall des Abbruchs immer Schmerzen auf beiden Seiten.
DE z.B. exportiert jährlich für 22 Mrd. € in die Türkei, importiert umgekehrt jedoch “nur” für 17 Mrd. €. Für DE erreicht die Türkei damit zwar nicht ganz Russlandniveau, aber weit weg ist es nicht. Und auch die EU muss sich natürlich überlegen mit wem sie denn noch alles den Handel einschränken möchte. Vom reinen Binnenhandel könnte die EU jedenfalls auch nicht besonders gut leben.
Kurzum: Abhängigkeiten ergeben sich bei Handelsbeziehungen meist in beide Richtungen. Und Erdogan ist sicherlich skrupellos genug um die EU daran zu gegebener Zeit zu erinnern falls es nötig werden sollte.
alex
2. August 2016 @ 21:23
@ebo: ich halte dieses Visa-Gezanke für ein Ablenkungsmanöver. Denn es gibt bereits seit vielen Jahren ein wenig bekanntes Abkommen, demnach türkische Höhere Beamte Visumfreiheit in der EU geniessen (Quelle: DRadio). Dieser Beamtenstatus wird natürlich von der trk. Regierung bestimmt, was dazu geführt hat, dass mittlerweile fast ausschliesslich Erdogangetreue Visumfreiheit bereits haben. Heuchlerei von beiden Seiten also – der Plebs spielt ja keine Rolle. Man sollte daher an anderen Stellen ansetzten, die Türkei ist ja Mitglied in zahlreichen wichtigen int. Institutionen (z.b. Europarat/Uno) und man könnte ganz schnell öffentlichkeitswirksam eine Verfahrenswelle lostreten, Gründe gibt es ja genügend. Den Dialog aber sollte man jedenfalls nicht abbrechen lassen, war auch bei Russland schon falsch. Und wenn man so richtig klug wäre, dann würde man gemeinsam mit Russland eine Strategie für (und nicht gegen) die Türkei entwickeln.
asisi1
2. August 2016 @ 20:30
diese probleme mit der türkei zeigen eindeutig die unfähigkeit der europäischen politiker auf. es sind einfach nullen die uns regieren. um da oben anzukommen, muss man immer ja und amen sagen. also nichts allein entscheiden und das ergibt dann dieses chaos. und jetzt wird versucht mit den gemachten fehlern, durch weitere fehler wieder heraus zu kommen. das geht aber nicht.
S.B.
2. August 2016 @ 16:42
“Kanzlerin Merkel und ihre Follower in Brüssel schätzen ihr Interesse an und in der Türkei höher ein als die viel beschworenen europäischen Werte.”
Diese vielbeschworenen “europäischen Werte” sind nichts anderes als ein Propagandatrick der “Eliten”, um den Europäern das Geld aus der Tasche zu ziehen (Werte-Stichwort in Sachen Flüchtlingskrise: Solidarität… und die kostet eben). Ein Großteil der Menschen lässt sich davon leider täuschen. kaush hat dazu oben das genau zielführende Statement zitiert. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen.
Man muss sich also fragen, wozu Merkel unbedingt die Kriterien der Visa-Bedingungen aufweichen will. Flüchtlinge und Armutsmigranten kommen ohnehin noch in rauen Massen hier an. Der Flüchtlingsdeal mit der Türkei hat daran nichts geändert. Wollte Merkel die Migrantenzahlen stark einschränken, würde sie den Wohlfahrtsstaat für Zuwandernde dichtmachen und die Grenzen effektiv kontrollieren. Welche Interessen verfolgt Merkel also damit, weiterhin Millionen von Armutsmigranten anzulocken, die Grenzen ungeschützt sich selbst zu überlassen und zusätzlich die Visa-Bedingungen für die Türkei abzuschwächen?
Nur zur Klarstellung:
Echten Flüchtlingen soll natürlich geholfen werden. Am besten aber vor Ort. http://www.unverwandt.at/2016/08/01/cui-bono/
Faktisch unbegrenzte Armutsmigration ist dagegen für niemanden eine Lösung, am aller wenigsten für die Armutsmigranten selbst. http://www.metropolico.org/2016/07/28/warum-es-nicht-funktionieren-kann/
luciérnaga rebelde
2. August 2016 @ 12:51
Und vergessen wir nicht die NATO. Die Türkei ist ein geostrategischer Stützpunkt, den sie unter keinen Umständen aufgeben wird. Zudem hat die NATO dort ein Gladio-Standby seit langen Jahren…
Skyjumper
2. August 2016 @ 15:31
Es ist zwar richtig dass die Türkei nach wie vor von geostrategischer Bedeutung ist (und die 2. größte Armee der Nato unterhält), aber zu viel sollte die Türkei da nicht drauf wetten. Die überragende Bedeutung der Türkei bestand darin die Marinen der Staaten des Warschauer Paktes im Schwarzen Meer einzusperren.
Seitdem Bulgarien und Rumänien mit ihren Schwarzmeerküstenabschnitten jedoch ihrerseits Nato-Mitglied sind, ist diese Bedeutung deutlich zurückgegangen. Seit dem Zoff zwischen der Ukraine und Russland noch mehr. Heute würde Russland seine Schwarzmeerflotte schon “ganz freiwillig” in den heimatlichen Gewässern belassen müssen um die eigenen Küsten zu schützen. Die Herzland-Theorie hat nicht umsonst auch 200 Jahre nach ihrer Entstehung ihr einflussreichen Befürworter.
Die heutige Bedeutung der Türkei liegt eher im Drohpotenial die Fronten komplett zu wechseln. Aber dafür dürfte Erdogan nicht zu viele russische Flugzeuge abschiessen. Putin vergisst das zwar ganz schnell wenn es opportun wäre, die Russen jedoch nicht.
kaush
2. August 2016 @ 11:35
Kein Staat auf dieser Welt steht konsequent für irgendwelche Werte.
Zitat Egon Bahr:
“In der internationalen Politik geht es nie um Demokratie oder Menschenrechte. Es geht um die Interessen von Staaten. Merken Sie sich das, egal, was man Ihnen im Geschichtsunterricht erzählt.”
Bei der EU kommt erschwerend hinzu, dass sie überhaupt kein Staat ist.
Cottin
2. August 2016 @ 17:07
Die EU war nie als Staat geschaffen. Eine Gemeinschaft In Europa. Dieses hin und her der Diskussion macht doch keinen Sinn auch im Bezug auf den Sultan . Kann man nicht auch betonen, dass wir in der EU auch Vorteile haben, und auch nur in einer Gemeinschaft stark sind. Immer nur alles schlecht zureden ( ich neige auch dahin ) verwässert den Gedanken und die Werte Europas . Mir kommt es hier auch so vor das es nur noch Nation gebunden diskutiert wird . Dann bitte nicht aufregen wenn Visagradstaaten einen Alleingang machen . Das wir in einer sehr tiefen Krisen stecken ist doch klar , aber immer nur draufhauen und negativ Zitate raushauen finde ich mittlerweile nicht angebracht. Ich würde mir wünschen, das wir positiv nach Lösungen Suchen, ansonsten hat es den Blog mit Terror schon eingeholt und wir spielen als Marionetten ! Dieses ganze Theater hören wir nun seit Wochen . Schlechte Nachrichten soll man doch mal positiv gegen überstehen. Sorry muss mir da Luft. Machen , ,,,
Skyjumper
2. August 2016 @ 17:52
@ Cottin
Im ersten Moment habe ich noch genickt bei Ihren Sätzen “……..auch betonen, das wir in der EU auch Vorteile……”, “………wünschen, das wir positiv nach Lösungen suchen……” und “……schlechten Nachrichten soll man doch mal positiv gegenüberstehen”.
Aber letztlich: Nein. Auf einem zerrütteten Fundament kann man nichts gescheites mehr aufbauen. Das muss weg und ggf. ersetzt werden damit dann wirklich etwas standfestes hat. Und das zerrüttete Fundament ist in diesem Fall die EU. Wobei die EU zum Glück nicht gleichzusetzen ist mit Europa.
ebo
2. August 2016 @ 20:52
@Cottin Selbstverständlich hat die EU auch Vorteile. Als Gemeinschaft von (noch) 28 Ländern könnte sie gegenüber der Türkei durchaus die Muskeln spielen lassen. Doch schon den Flüchtlingspakt hat nicht etwa die EU-28 ausgehandelt, sondern allein Kanzlerin Merkel, an EU-Ratspräsident Tusk vorbei. Entsprechend wird die Krise nun als deutsch-türkische inszeniert, die EU tut so, als sei sie unbeteiligt. Wenn sie wollte, könnte sie Erdogan wegen seiner Säuberungen die rote Karte zeigen, die Beitrittsverhandlungen aussetzen und/oder die Vorbeitrittshilfen streichen und gleichzeitig Griechenland massiv unter die Arme greifen, damit Athen für alle Fälle gerüstet ist. Stattdessen folgen alle Merkel und ihren selbst für Deutsche unverständlichen Windungen und Wendungen. So sieht es aus, das deutsche EUropa, eine Union, die sich nicht traut…
Skyjumper
2. August 2016 @ 09:47
Die Türkei muss man wie eine Altmülldeponie betrachten. Jahrzehntelang wurde dort seit dem 1. Weltkrieg alles mögliche an “toxischen Chemikalien” versenkt und im Boden ihren wenig durchschaubaren katalytischen Reaktionen überlassen. Der heutige Blick von aussen reicht meistens nur bis auf die dünne Grasnarbe darüber.
Die Türkei versteht sich als Nachfolger des Osmanischen Reiches. Und es ist der Türkei sehr wohl bewußt das ihre heutigen Staatsgrenzen lediglich einem sehr geschickten Taktieren von Kemal Atatürk zu verdanken ist und keinesfalls dem Gestaltungswillen Russlands, Großbritanniens und Frankreichs entspricht. Und es gibt auch immer wieder kleinere Gedankenvorstösse daran etwas zu ändern (Armenienstaat vergrößern, Kurdenstaat gründen). Auch das ist den Türken bekannt und bewußt.
Vor diesem Hintergrund ist das Agieren Erdogans eigentlich völlig unbegreiflich, aber das musste man vom Handeln eines deutschen Reichskanzlers mit österreichischer Herkunft auch sagen. Gewisse Parallelen bieten sich an.
Ich hätte es sehr begrüsst wenn die EU ihren Pakt mit der Türkei in dieser Form nicht geschlossen hätte, sondern sich vielmehr auf die eigenen (vorhandenen) Regeln und Möglichkeiten besonnen hätte. Wie so oft stellt sich heraus dass der scheinbar einfache Weg nun doch nicht so einfach ist. Und wer billig einkauft bezahlt am Ende zweimal.
Gleichwohl muss man die realpolitischen Gegebenheiten akzeptieren bzw. das Handlungstableau nutzen das man eben hat. Wir stellen den Handel mit China auch nicht ein weil dort die Menschenrechte deutlich anders gesehen werden als hierzulande. Und die Todestrafe in den USA hindert uns weder an den TTIP-Verhandlungen noch an intensivsten Datenaustausch. Rohrstockstrafen in Saudi-Arabien hindern uns nicht an guten Beziehungen dorthin und die aktuell sehr eingeschränkte Pressefreiheit in Ägypten ist ebenfalls kein Hindernis.
Warum also sollte das nun bei der Türkei anders sein? Weil es sich hier um einen EU-Beitrittskandidaten handelt? Man blicke nach Ungarn, nach Polen, in die Ukraine. Die EU hat noch nie konsequent für irgendwelche Werte gestanden.
Peter Nemschak
2. August 2016 @ 08:51
Mit oder ohne Türkei hat Europa geo- und realpolitisch ein nachhaltiges Interesse an der Türkei. Die EU muss sich allerdings darauf einstellen, dass sie selbst die Außengrenzsicherung verstärken muss. Mit Wertebeschwörung allein wird es nicht getan sein.