House of Cards in Straßburg (II)
Es läuft nicht gut für die deutsche Kandidatin für die Europäische Kommission. Kurz vor der entscheidenden Abstimmung am Dienstag in Straßburg gleicht das EU-Parlament einem Kartenhaus. Eine falsche Bewegung, und alles bricht zusammen.
(Fortsetzung, Teil 1 steht hier)
Nicht nur die deutsche Kandidatin steht unter Hochdruck. Auch die deutschen Sozialdemokraten sind in der Defensive. Stein des Anstoßes ist ein zweiseitiges Papier, das sie an ihre Genossen aus anderen EU-Ländern verteilt haben. Darin werden die Affären und Skandale der deutschen Verteidigungsministerin akribisch aufgelistet.
Was als Argumentationshilfe für die interne Meinungsbildung gedacht war, wird von CDU und CSU als Schmutzkampagne wahrgenommen. Sogar Merkel schaltet sich ein – und warnt vor einer Belastung der Großen Koalition. Am Ende wird der Gegenwind zu stark. Jens Geier, Chef der SPD-Gruppe im Europaparlament, tritt den Rückzug an.
„Wir sehen aus vielen Reaktionen, dass die Zusammenstellung in dieser Zuspitzung missverständlich als Versuch der öffentlichen persönlichen Beschädigung verstanden wird“, räumt Geier in einer Pressemitteilung ein. „Das war nicht beabsichtigt.“
Wesentlich konzilianter als die SPD geben sich die Rechtskonservativen von der EKR. Wenn man Von der Leyen ablehne, laufe man Gefahr, dass sich am Ende doch ein Sozialist durchsetzt, heißt es in der 62 Köpfe starken Fraktion. Und das scheint die größte Sorge der Rechten zu sein.
Mit Zustimmung darf Von der Leyen auch aus Ungarn rechnen. Außenminister Peter Szijjarto sagte, die 13 EU-Abgeordneten der Regierungspartei Fidesz würden für die deutsche Kandidatin stimmen: “Wir werden sicherlich Diskussionen haben, das ist richtig, aber was ich auch weiß, ist: Ursula von der Leyen respektiert die Mitgliedsstaaten.“
Das ist brisant – denn eigentlich sind die Fidesz-Mitglieder mit einem Bann belegt, weil Regierungschef Orban zum Jahreswechsel eine Schmutzkampagne gegen Kommissionschef Juncker gefahren hatte. Die EVP hat Fidesz sogar suspendiert. Wenn nun die EVP-Kandidatin mit Hilfe von Fidesz gewählt werden sollte, wäre das ein Wortbruch, die Glaubwürdigkeit wäre schwer erschüttert.
Doch was soll Von der Leyen machen? Soll sie sich öffentlich von Fidesz und von der italienischen Lega distanzieren, die ihr ebenfalls wichtige Stimmen geben könnte?
Genau das verlangt Achim Post, der Generalsekretär der Sozialdemokraten in Europa. Er forderte die Kandidatin auf, unmissverständlich zu erklären, dass sie keinesfalls mit den Stimmen von Rechten und Rechtsnationalen aus Polen, Ungarn oder Italien gewählt werden wolle.
Dabei ist der Sündenfall längst eingetreten. Bei der Nominierung durch den EU-Gipfel stimmten sowohl Orban als auch die Staats- und Regierungschefs aus Polen und Italien für Von der Leyen. Orban brüstete sich sogar mit seiner Entscheidung: “Wir haben eine deutsche Familienmutter, die Mutter von sieben Kindern, an die Spitze der Kommission gewählt“, jubelte er. Das sei eine Wende.
Entscheidend wird die Rede
Entscheidend wird die Rede, die von der Leyen am Dienstag Vormittag in Straßburg halten will. Darin kann sie sich von den Nationalisten und Autokraten abgrenzen – etwa mit einem klaren Bekenntnis zu den laufenden Rechtsstaats-Verfahren gegen Polen und Ungarn.
Denkbar ist auch, dass sie den „Spitzenkandidaten-Prozeß“, der im Mai so kläglich gescheitert war, wiederbelebt. „Mehr Demokratie wagen“ – das könnte manche Wunde heilen, die der Personalpoker der letzten Wochen gerissen hat.
Von der Leyen kann aber auch weitermachen wie bisher und versuchen, sich mit wolkigen Versprechen aus der Affäre zu ziehen. Doch das dürfte, da sind sich ausnahmsweise einmal alle Europaabgeordneten einig, direkt in die Wahlniederlage führen – und damit zur nächsten EU-Krise.
Dieser Artikel erschien zuerst in der taz, die Online-Version steht hier. Mehr zu VdL (alle Blogposts) hier
Peter Nemschak
16. Juli 2019 @ 14:53
Großbritannien und sein Commonwealth sowie Frankreich sind bis heute nationalstaatlich organisierte Demokratien, trotzdem nicht den Verlockungen des Faschismus erlegen. Der Nationalstaat hat sich als gesellschaftliches Ordnungs- und Identifikationsmodell durchaus bewährt. Alles kann er alleine nicht leisten. Deshalb gibt es internationale Zusammenarbeit und supranationale Gebilde wie die EU. Es ist Zeit, dass Deutschland sein gestörtes Verhältnis zum Nationalstaat überwindet. Dann wird es sich auch leichter mit rechtspopulistischen Reflexen tun. Die Verabsolutierung des linksliberalen Diskurses (Beispiel: Migration) schafft bei vielen Ablehnung und Hass. Er ist nicht alternativlos.
Peter Nemschak
15. Juli 2019 @ 14:37
Wie immer das Rennen ausgeht, mit einer Änderung der Lissabon-Verträge ist nicht zu rechnen. Die EU ist und bleibt ein Verbund souveräner Staaten. Es fehlt der Wille zur Bildung eines europäischen Nationalstaats. Vielleicht kommt Deutschland, das bisher stets auf mehr Integration gedrängt hat, zu dem Schluss dass es sich stärker als bisher zur nationalstaatlichen Idee bekennen wird, ungeachtet der schlechten Erfahrungen, die das Land im 20.Jhdt. damit gemacht hat. Die Suche nach gemeinsamen Lösungen zur Bewältigung von Migration, Stabilisierung der Eurozone und zur Verlangsamung des Klimawandels wären dringender als das ständige Geschrei nach mehr Demokratie.
zykliker
15. Juli 2019 @ 16:41
https://de.wikiquote.org/wiki/Diskussion:Sicherheit
“Wer grundlegende Freiheiten aufgibt, um vorübergehend ein wenig Sicherheit zu gewinnen, verdient weder Freiheit noch Sicherheit.” – Benjamin Franklin
Sinngemäß angewendet auf: “Sachorientierte Problemlösungen vs Demokratische Prozesse.”
Angesichts der Dringlichkeit und bei weiterem Verzug Unlösbarkeit der wichtigsten Weltprobleme kann man da schon ins Grübeln kommen, aber:
Ist einer sich als korrupt und unfähig erwiesenen Flintenuschi (oder ist die vorgebliche Unfähigkeit gar nur Tarnung?) eine autoritär durchgesetzte Problemlösung bei Klima & Migration zuzutrauen? Und schon löst sich der scheinbare Gegensatz zwischen Demokratie und Sachlösung in nichts auf. Die würde Klima/Migration genauso kompetent in den Sand setzen wie die Bundeswehr.
“Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen” Ich habe Helmut Schmidt für diesen Satz gehaßt und bewundert zugleich, besser konnte ein starker Realpolitiker das Dilemma nicht beschreiben…
Wer also das EP weiter in seinem vordemokratischen Dämmerschlaf halten will, seine Emanzipations-Regungen mit Verweis auf Lissabon abseitig findet, um wenigstens ein bißchen “Klima” und “Migration” gerettet zu bekommen, “hat am Ende beides nicht verdient.”
Peter Nemschak
15. Juli 2019 @ 19:03
Das EU-Parlament ist wegen des Fehlens des gleichen Wahlrechts nicht legitimiert und hat daher im Vergleich zu den nationalen Parlamenten eingeschränkte Rechte. Was spricht gegen eine verbesserte Zusammenarbeit der nationalen Parlamente? Ich verstehe nicht die Allergie der Deutschen gegen einen Nationalstaat. Immerhin sind seit dem Zweiten Weltkrieg fast 75 Jahre vergangen. Man muss ja den Nationalstaat nicht zwingend missbrauchen. Andere europäische Staaten haben es auch nicht getan.
Holly01
16. Juli 2019 @ 10:08
“Andere europäische Staaten haben es auch nicht getan.”
Können Sie mir bitte einen Nationalstaat in Europa nennen, der in den letzten 150 Jahren kein “Dreck am Stecken” hat?
Nur einen?
Nationale Staaten haben einen sehr starken inneren Sinn. Sie garantieren das Eigentum. Leider stehlen Sie auch regelmässig das Eigentum anderer national Staaten oder Gesellschaften oder man erkennt gleich der Gegenseite das “Mensch sein” ab (anders Gläubige zB) oder man erkennt das fremde Recht nicht an.
Der Spruch “die Natur stellt keine Rechnung” hat eine Ergänzung “wir zahlen nicht”.
Also seien Sie sportlich, nennen Sie einen einzigen national Staat in Europa (ausdrücklich nicht EU, damit es leichter erscheint), der seine Existenz nicht missbraucht hat.
vlg