Hinterzimmer? Das wahre Problem sind die Parteien
Wurde Ursula Von der Leyen im “Hinterzimmer” gewählt? Oder lief bei ihrer Nominierung durch den Rat alles nach den EU-Regeln? Mittlerweile wird alles und sein Gegenteil behauptet – und das wahre Problem vergessen: die Krise der etablierten Parteien.
Wenn ein Thema bei “Hart aber fair” angekommen ist, dann weiß man: Das ist durch. Dies gilt auch für den “Hinterzimmer-Deal” beim letzten EU-Gipfel. Es geht nur noch um Meinungsmache, nicht um Aufklärung.
Wäre es anders, dann hätte man nicht nur nach der Rolle von Kanzlerin Merkel fragen müssen, die den Streit ausgelöst hat – mit ihrem abrupten Kurswechsel bei den Spitzenkandidaten und ihrem Placet für den nicht satisfaktionsfähigen Manfred Weber.
Nein, dann hätte man auch nach der Rolle der nationalen Parteien bzw. europäischen Parteienfamilien fragen müssen – also nach CDU und CSU, die Weber gepusht haben, und nach der EVP, die ihn gegen den wesentlich fähigeren Alexander Stubb nominiert hat.
Diese Frage führt uns zum eigentlichen Problem. Bisher war es ja so, dass die beiden großen Parteienfamilien – EVP und die sozialdemokratische S&D – die Macht in der EU unter sich aufgeteilt haben. Ihre heimliche Große Koalition machte es Merkel & Co. leicht.
Bei der Europawahl 2014 konnte sie sich nicht nur auf den EVP-Kandidaten Juncker, sondern auch auf dessen Rivalen Schulz stützen. Nach Junckers Wahlsieg zog sich Schulz sofort zurück – um einen “Deal” mit den Konservativen einzufädeln, der ihm Einfluß sicherte.
Fünf Jahre später ist alles anders. EVP und S&D haben nicht nur ihre Mehrheit verloren. Sie traten auch erstmals gegeneinander an – S&D-Kandidat Timmermans zog sich nicht einfach zurück. Auch die Liberale Vestager machte keine Anstalten, für Weber den Platz zu räumen.
Dieses Problem hätte man vielleicht noch durch Verhandlungen lösen können. Doch es kam ein neuer Umstand hinzu: die Deutschen haben Macht verloren! Bei der S&D wurde Udo Bullmann durch eine Spanierin ersetzt, bei den Liberalen übernahm ein Rumäne das Ruder.
Dahinter standen Pedro Sanchez und Emmanuel Macron – die Staats- und Regierungschefs aus Spanien und Frankreich. Sie lieferten sich mit Merkel und ihrer EVP einen erbitterten Machtkampf. Und der spielte nicht nur im Rat, sondern auch im Europaparlament in Straßburg.
Plötzlich regierten Franzosen und Spanier mit
Dort, wo früher eine deutsch dominierte GroKo von Merkels Gnaden agierte, regierten plötzlich Franzosen und Spanier hinein – unerhört! Und deren Chefs taten genau das, was Merkel bisher als ihr Privileg betrachtete – sie gaben den Kurs vor! Unfassbar!
Hier liegt des Rätsels Lösung, weshalb das Europaparlament sich auf keinen Spitzenkandidaten einigen konnte. Hier liegt aber auch die Antwort auf die Frage, warum es im Rat hakte. Das wahre Problem sind die Parteien, bzw. die Krise des etablierten Parteiensystems.
Sie haben den europäischen Knoten geschaffen, der sich nur noch mit Gewalt zerschlagen ließ. Sie haben “im Hinterzimmer” agiert – und am Ende sogar offen gegen Merkel revoltiert, wie der EVP-Kongress vor dem EU-Gipfel in Brüssel zeigte.
Europaweite Wahllisten reichen nicht
Wenn diese Analyse stimmt, dann reicht es nicht aus, das gescheiterte System der Spitzenkandidaten durch europaweite Wahllisten zu ergänzen. Nötig wäre eine viel breitere Reform, die die Krise der Parteien berücksichtigt und die Bildung neuer Mehrheiten erleichtert.
Im Kern geht es um eine umfassende Politisierung und Demokratisierung – nicht nur des Europaparlaments, sondern auch des Rats. Der Schlüssel dazu liegt in Deutschland, Frankreich und Spanien – also jenen drei Ländern, die die drei größten Parteien führen…
Siehe auch “Requiem auf die Spitzenkandidaten” und “Das Parlament muß den Aufstand wagen”
Schmid Hans L.
10. Juli 2019 @ 14:12
Erforderlich wäre, dass die Bürgerinnen und Bürger mehr zu sagen hätten in der EU, als nur alle 5 Jahre einmal, bei der Wahl des Parlaments. Wollen sie das? – Wählen Sie auf http://www.our-new-europe.eu
Peter Nemschak
10. Juli 2019 @ 12:55
@Kleopatra Hätte Weber im europäischen Parlament eine Mehrheit bekommen, wenn ihn die Regierungschefs ausgesucht hätten ? In erster Linie muss der Kandidat den Regierungschefs der Mitgliedsstaaten gefallen. Tut er das, hat er beste Chancen auch dem national gewählten europäischen Parlament zu gefallen. Ein gravierendes Problem würde entstehen, wenn die nationalen Regierungen untereinander ideologisch stark gespalten wären. Diese Spaltung würde sich indirekt auch im EU-Parlament abbilden. Ein Ergebnis im stark konsensorientierten EU-System wäre dann wohl schwer zu erreichen. Die eigentliche institutionelle Schwäche des europäischen Systems besteht darin, dass es zu stark von den politischen Wechselfällen, vor allem in den großen Mitgliedsländern, abhängig ist.
Kleopatra
10. Juli 2019 @ 06:47
In dem Artikel wird aber noch ein anderes Problem angeschnitten: die nationalen Gegensätze innerhalb der EU. Diese lassen sich nicht einfach durch eine “Demokratisierung” beseitigen oder auch nur entschärfen. Eine Demokratisierung nach dem Prinzip der Stimmengleichheit setzt eine gewisse Homogenität der Wählerschaft voraus (zumindest in der Vorstellung); fehlt es an dieser Vorstellung, werden kleinere Gruppen immer das Gefühl haben, sie würden marginalisiert.
Völlig richtig ist der Hinweis, dass das “Spitzenkandidatensystem” nur solange funktioniert hat, wie die Sozialdemokraten bereit waren, den christdemokratischen Kandidaten zu unterstützen, wenn letztere etwas mehr Stimmen hatten. Da das aber eine Konstante zu sein scheint, würde das Prinzip darauf hinauslaufen, dass eine 24 %-Partei statt des Europäischen Rats den Kommissionspräsidenten wählen darf. Warum sollten die anderen Parteien neben der EVP das Spiel mitspielen?
Peter Nemschak
10. Juli 2019 @ 08:58
Die von Ihnen erwähnte Homogenität hat einen Nationalstaat zur Voraussetzung mit entsprechender Identifikation der Wähler. Allein die verschiedenen Sprachen sind ein Hindernis für diese, abgesehen von der kulturellen Heterogenität. Es gibt weder eine Welt- noch eine Europagesellschaft. In der EU erfolgte die Bildung des Staatenbundes aus bereits vorhandenen Nationalstaaten von oben, während der Nationalstaat in den USA von den Gliedstaaten von unten gebildet wurde.
ebo
10. Juli 2019 @ 09:19
Korrekt, die 24-Prozent-Partei EVP hat sich als Hauptproblem erwiesen. Und es ist auch nicht nachvollziehbar, warum die EVP mehr Macht haben sollte als alle anderen Parteien zusammen. Insofern war der Versuch von Macron nachvollziehbar, die Dominanz der EVP zu brechen. Gelungen ist er nur sehr bedingt, denn mit Von der Leyen kommt wieder eine Kommissionspräsidentin aus dem konservativen Lager.
Kleopatra
10. Juli 2019 @ 09:48
Es geht nicht nur um die Dominanz der EVP; dass die eine starke Stellung hat, ergibt sich daraus, dass sie relativ recht groß ist. Es ist aber nicht sinnvoll, wenn sie sich anmaßt, Personalentscheidungen für alle anderen vor der Wahl verbindlich zu treffen, und darauf lief die Nominierung von Manfred Weber hinaus. Ein Kommissionspräsident muss nicht nur einem Kongress der EVP gefallen, sondern auch andere Qualitäten bieten, die Weber nicht hat. Das fängt mit Regierungserfahrung an und hört mit Französischkenntnissen nicht auf.
Kwasir
10. Juli 2019 @ 12:44
Wenig Aufmerksamkeit wird bei ganzen Kandidatengeschichte der Rolle (und letzlich Versagens) des EVP – “Familienvaters”, Joseph Daul, geschenkt. Er hat Alexander Stubb (der angesichts seiner Chancenlosigkeit seine Kandidatur resigniert zurückzog) verhindert, um seinen Favoriten durchzubringen. Dabei wäre Stubb , auch für Merkel, der bei weitem bessere Kandidat gewesen und auch von Sozialisten toleriert (gewählt ) worden. Ich habe das Gefühl, dass Daul, ein französicher Republikaner alter Schule mit dem Ruf eines exzellenten Strippenziehers, noch eine Rechnung mit Macron zu begleichen hatte. Nämlich die, mit seiner Partei La République en Marche, nicht nur die PS, sondern auch die Républicains in Frankreich deklassiert zu haben (ähnliche Verluste wie die SPD). Im EP sassen bisher 20 Républicains, jetzt nur noch 8. Ãœber die EVP (und einen Kommissionspräsidenten Weber) hätte Daul /Republikaner Einfluss nehmen können um Macrons Initiativen auszubremsen.
Mit Stubb wäre dies nicht möglich gewesen, mit vdL, die sich eher mit Macron als alten Gaullisten versteht, wohl auch nicht.
Peter Nemschak
9. Juli 2019 @ 19:00
Die großen Parteien der Mitte kämpfen in allen Ländern mit dem Rücken zur Wand um ihren Machterhalt und haben daher kein Interesse an neuen Mehrheiten. Womöglich mischen nach den Liberalen in Zukunft noch andere unerwünschte politische Eindringlinge mit.