Hält die EU an Erdogan fest?
Nach dem offenbar gescheiterten Putschversuch in der Türkei hat die EU ein Statement abgegeben. Es klingt so, als halte Brüssel an Präsident Erdogan fest – wurde später aber abgeschwächt.
In einer ersten Stellungnahme hieß es: “The EU fully supports the democratically elected government, the institutions of the country and the rule of law”. Sie wurde per Twitter verbreitet.
In der später verschickten Pressemitteilung klingt es dann aber anders:
They expressed support to the democratic institutions of the country and condemned the use of violence against them. They agreed that any escalation of violence involving civilians has to be avoided.
Plötzlich ist nicht mehr von der “demokratisch gewählten Regierung” die Rede. Warum eigentlich? Hat man in Brüssel erkannt, dass Erdogan seine Regierung nach Belieben auswechselt und selbst einen Coup plant?
Oder gibt die EU Erdogan am Ende doch wieder einen Freifahrtschein? Die nächsten Tage dürften es zeigen. So oder so ist es höchste Zeit, den türkischen Sultan in die Schranken zu weisen.
Das von Erdogan geplante Präsidialsystem, die Ausschaltung der freien Presse und der Opposition hätten schon längst verurteilt werden müssen. EUropa, besinne Dich auf Deine Werte!
S.B.
17. Juli 2016 @ 18:12
Ich verstehe den hier diskutierten Ansatz EU gegen Erdogan nicht. Die EU ist selbst eine Diktatur, wie hier schon vielfach festgestellt wurde, Demokratie jedenfalls nicht ihr Markenzeichen. Der Rechtsstaatliche Grundsätze gelten maximal so lange, wie es nicht contra EU und Euro geht.
Das Gleiche in Deutschland, wo eine Merkel-Diktatur der politischen Willkür Tür und Tor geöffnet hat.
Passt doch alles bestens zusammen, so lange die eine Diktatur die gleichen Ziele hat, wie die andere. Allein hier scheint der Hase im Pfeffer zu liegen.
ebo
17. Juli 2016 @ 18:43
S.B. Das ist eben blöd wenn man nicht zwischen Post-Demokratie und Diktatur unterscheiden kann…
S.B.
17. Juli 2016 @ 19:16
@ebo: Gegen Diktatur hört sich Post-Demokratie doch richtig sympathisch, ja immer noch ein bisschen nach Demokratie an. Blöd nur, wenn die Machtform in der Zeit nach der Demokratie, also in der Post-Demokratie, eine Diktatur ist. 😉
kaush
17. Juli 2016 @ 11:46
Die s.g. Säuberungsaktion gegen die Justiz, ist schlicht und ergreifend die endgültige Abschaffung des Rechtsstaates in der Türkei.
Jetzt ist die Türkei eine Mischung aus Gottesstaat (AKP –> Muslimbruderschaft!) und Erdogan-Diuktatur.
Für so einen Staat gibt es keine Chance auf Mitgliedschaft in der EU und es kann auch keine Visumfreiheit geben.
Wäre diese EU nicht so eine verkorkste Angelegenheit, würde sie das auch klar formulieren.
Ganz nebenbei: Wir sollten schleunigst unsere Soldaten dort abziehen.
alex
17. Juli 2016 @ 09:17
Misstrauen ist angebracht, eine Änderung der EU-Politik gegenüber Erdogan längst überfällig.
Wenn man sich den Verlauf der Ereignisse der letzten Jahre in Erinnerung ruft,
wäre folgendes zu nennen:
1) Zumindestens eine False Flag Operation wurden unter Erdogan als Vorwand eines Angriffs von Syrien bereits geplant – es gibt da z.B. ein geleaktes Telefongespräch, in dem ein gefakter Angriff auf ein islamisches Heiligtum (Suleyman Shah) im Syrischen Grenzgebiet als Vorwand für einen Krieg gegen Syrien dienen sollte.
2) Aus geleakten Depechen aus amerikanischen Botschanften/Aussenministerium wurde bekannt:
a) Man hat seitens der USA jahrelang einen sehr lukrativen Handel (Gold gegen Öl) der Türkei mit Iran toleriert, trotz UN-Embargo.
b) Die Ölgeschäfte der Türkei mit ISIS kennt mittlerweile jeder.
c) Jahrelang Waffenschmuggel mit Kriegsgerät aus Lybien, das über die Türkei an die ISIS/ und Al Nusra/AL Quaida Kämpfer geliefert wurden – aber offiziell bekämft man die Extremisten. Unter den Waffen waren auch ManPads (Raketen gegen Flugzeuge/Helis).
d) Es gibt geheimdienstliche Hinweise aus den USA, dass die Türkeit mit dem Giftgasangriff in Syrien mit verwickelt war.
e) Offen türkische Grenze nach Syrien (in beide Richtungen) für Jihadisten.
f) Islamistische Uighur-Kämpfer aus China/Burma werden/wurden von der Türkei bei der Einreise nach Syrien/Kazachstan unterstützt/eingeflogen (erhielten türkische Pässe, wurden dann über die syrische Grenze geschleust).
Quellen:
http://www.lrb.co.uk/v36/n08/seymour-m-hersh/the-red-line-and-the-rat-line
http://www.lrb.co.uk/v38/n01/seymour-m-hersh/military-to-military
http://www.conflictarm.com/wp-content/uploads/2016/02/Tracing_The_Supply_of_Components_Used_in_Islamic_State_IEDs.pdf
3) In der Türkei sind mittlerweile weltweit die meisten Journalisten in Haft (Bericht dt. Pen-Club/Dradio.de).
4) Etliche Fälle von Missachtung von Urteilen des türk. Verfassungsgerichts. Unter fadenscheinigen Argumenten Entfernung/Verfolgung von Oppositionspolitkern aus dem Parlament. Kampf gegen die Kurden in der Tšrkei und Syrien unter Missachtung int. Verträge/türk. Verfassung, Zerstörung von Weltkulturerbe (Unesco), Siedlungspolitik mit syrischen Flüchtlingen als geostrategische Waffe gegen alteingesesssene Ethnien (Telepolis). Mehrfache Drohungen Flüchtlinge in Richtung EU zu schicken, sollte man türkischen Forderungen nicht nachkommen.
5) Sofort nach dem gescheiterten Putsch wurden ohne vorherige Untersuchung zig-Tausende von Richtern/Justizbeamten entlassen z.T. verhaftet. Eine Säuberungs-Tsunami überollt derzeit die Türkei, der Rechtsstaat wird de facto abgeschafft.
Um einen “heroischen” Kampf um Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in der Türkei geht es Erdogan sicherlich nicht. Im Gegenteil, es scheint alles andere möglich. Die Zeit und geleakte Dokumente werden es zeigen.
An der bisherigen Türkei-Politik der EU so festzuhalten, wäre sehr kurzsichtig.
Andres Müller
16. Juli 2016 @ 22:45
Es gibt Stimmen die zu bedenken geben dass der Putschversuch inszeniert sein könnte. Der Ablauf der Aktion ohne deutlich erkennbare Verantwortliche hinter dem Putsch und die Reaktion des “Sultans” Erdogan um tausende Richter zu entlassen könnte bedeuten, dass die westlich erscheinenden Teile der türkischen Gesetze trotz des angeblichen Scheitern des Umsturzes gekippt werden könnten und durch islamistische ersetzt, vielleicht droht jetzt die Sharia. Wie auch immer; der Graben zwischen westlich orientierten und islamistischen Teilen der Bevölkerung dürfte seit Gestern noch tiefer geworden sein. Eine weitere Zunahme des unberechenbar Irrationalen an den Grenzen zu Europa.
Skyjumper
16. Juli 2016 @ 20:39
“EUropa, besinne Dich auf Deine Werte!”
Wie denn? Die Probleme der EU, die sie mit Hilfe der Türkei zu lösen gedenkt, sind immer noch die gleichen. Die “Zwangslage” hat sich also nicht verändert. Das einzige was sich durch den Putsch verändert hat ist das Erdogan jetzt sehr viel schneller zu seinem Präsidialsystem kommt als er hoffte. Und sehr viel radikaler.
Es ist schon atemberaubend mit welcher fulminanten Geschwindigkeit Erdogan die Chance nutzt die sich ihm da letzte Nacht unverhofft aufgetan hat. Dass die Armee gesäubert würde war bereits letzte Nacht absehbar. Das bereits im Laufe des heutigen Tage Richter und Staatsanwälte auf’s Abstellgleis kommen würden hätte ich in dem Tempo nicht erwartet.
Wenn es denn so unverhofft war.
bluecrystal7
17. Juli 2016 @ 04:32
Absolut. Sehe ich auch so.
“Der autoritäre türkische Präsident wird den Aufstandsversuch von Teilen des Militärs für eine Radikalisierung seines Kurses nutzen. Die demokratische Opposition ist der eigentliche Verlierer. Ein Kommentar”
https://www.neues-deutschland.de/artikel/1018944.ein-putschversuch-fuer-erdogan.html
Peter Nemschak
17. Juli 2016 @ 12:33
Kurzfristig mögen Sie Recht haben, jedoch: je stärker der Druck, desto stärker der Gegendruck, der sich politisch aufbauen wird. Wirtschaftlich hilft politische Unfreiheit nicht. In Zeiten des Internet und der Telekommunikation ist die Gesellschaft zu vernetzt als dass sie sich sehr lange kontrollieren ließe. Die unbeabsichtigten Nebenwirkungen wird auch Erdogan zu spüren bekommen.
Skyjumper
17. Juli 2016 @ 18:40
@ Peter Nemschak
“Kurzfristig” kann in einem solchen Fall durchaus reichen. Sie selbst vermuten ja bereits “unbeabsichtigte Nebenwirkungen”. Was letztlich nichts anderes heißt als das ein weiterer Staat in der Region im Chaos versinken könnte mit bürgerkriegsähnlichen Szenarien in verschiedenen Denkmustern. Plötzlich könnten in der Türkei 3 Gruppen gegeneinander agieren. Westlich orientierte Türken, “Gottesstaatanhänger” und Kurden. Dabei sind unterschiedlichste Radikalisierungsebenen vorstellbar.
Die Region als ganzes würde dadurch noch instabiler als sie es eh schon ist. Und DE mit seinen über 3 Mio. türkischen Mitbewohner wäre in dem Fall direkt mitbetroffen. Ganz egal wie sich die 3 Mio. letztlich aufsplitten in Pro-Erdogan, Anti-Erdogan und sich neutral zurückhaltende.
“Kurzfristig” ist also kein wirklicher Anlass zum beruhigten Zurücklehnen.
Cottin
16. Juli 2016 @ 20:14
War doch absehbar, das der Sultan sich weit entfernt von der Eu !! Das wird spannend wie dieser Deal weitergeht ! Auch ich hoffe, dass die Eu aufwacht und auch die Stirn bietet , das war ja vorher nur Geschwätz !! Schauen wir mal !
Peter Nemschak
16. Juli 2016 @ 21:05
Ohne Alternative in der Flüchtlingsfrage hat die EU wenig dagegen zu halten. Abgesehen von ein paar Akademikern, Journalisten und Intellektuellen scheint die Mehrheit der Türken Erdogan zu unterstützen.
Peter Nemschak
16. Juli 2016 @ 13:29
Um zu verhindern, dass in die EU geflüchtete Putschisten im Ausland Terrorakte gegen die Regierung Erdogan planen und durchführen, sollte die geplante Visafreiheit für türkische Staatsbürger bis auf weiteres aufgeschoben werden.
Skyjumper
16. Juli 2016 @ 20:55
Da stimme ich Ihnen emotional zu. Allerdings kann es durchaus noch sein, dass die europäischen Staaten es noch bedauern werden dass dieser Putsch fehlschlug.
Auch von Stauffenberg hatte am Tag danach keine gute Presse. 10 Jahre später sah das anders aus.
Aber davon abgesehen wird das wohl Wunschdenken bleiben. Und rational gesehen auch zu Recht. Denn eine derartige Begründung würde schon recht nah an rechtsaatlich nicht begründbare Sippenhaft heranreichen.
Peter Nemschak
17. Juli 2016 @ 08:21
So wenig spürbar die türkischen Militärregierungen für Touristen und Geschäftsreisende waren, haben sie zur Demokratisierung wenig beigetragen. Diesmal fand der Putsch im Unterschied zu früheren Putschen keine Unterstützung bei den Leuten. Kulturell ist die Türkei allerdings nach wie vor keine pluralistische westliche Demokratie. Auch die Werthaltungen in der türkischen Gesellschaft sind, wie Untersuchungen unter jungen Menschen zeigen, deutlich anders als bei uns. Allein deshalb sehe ich einen EU-Beitritt der Türkei in weiter Ferne.
Peter Nemschak
16. Juli 2016 @ 11:51
Der gescheiterte Putschversuch wird den Weg der Türkei zu einer autoritären Präsidialdemokratie ebnen und von der EU weiter entfernen. Der für Erweiterung zuständige Kommissar kann beruhigt auf Urlaub gehen, vermutlich auf keinen Urlaub in der landschaftlich reizvollen Türkei.