Gipfel der Verunsicherung
Trump, Putin, Erdogan: Gleich drei selbstherrliche Staatenlenker fordern die EU heraus. Doch beim Gipfeltreffen in Brüssel ist keine klare Antwort zu erwarten. Die Chefs sind verunsichert – und versuchen wieder, Zeit zu kaufen.
USA: Im Streit um Strafzölle schwankt die EU zwischen Beschwichtigung und Vergeltung. Die ursprünglich klare Haltung der EU-Kommission (“zurückschlagen”) wurde vor allem vom Export-Weltmeister Deutschland systematisch ausgebremst.
Beim EU-Gipfel liegen alle Optionen auf dem Tisch. Doch nichts deutet darauf hin, dass die EU gleich Gegenmaßnahmen einleitet. Vielmehr soll ein “Diskussionsprozess” eingeleitet werden. Dabei dürfte es um alle Zölle gehen – auch die europäischen.
Siehe auch “So protegieren wir unseren Markt”
Russland: Der Kalte Krieg um den Giftgas-Angriff auf einen russischen Doppelagenten hat sehr unterschiedliche Interessen offenbart. Großbritannien eskaliert, Griechenland beschwichtigt, Deutschland laviert. Sanktionen liegen nicht auf dem Tisch.
Beim EU-Gipfel wird Premierministerin May ihre Haltung vortragen. Ratspräsident Tusk kündigte an, dass die EU mehr zum Schutz gegen ABC-Waffen tun will. Demgegenüber fordert Kommissionschef Juncker eine Sicherheitspartnerschaft mit Russland.
Siehe auch “Corbyn und Tsipras bremsen May “
Türkei: Präsident Erdogan setzt sich über alle EU- und Bündnis-Regeln hinweg – mit einer Seeblockade vor Zypern, immer neuen Geldforderungen für Merkels Flüchtlingsdeal und dem Einmarsch in Syrien, der sogar dem Völkerrecht widerspricht.
Beim EU-Gipfel dürfte es eine geharnischte Erklärung zu Zypern geben – aber auch einen Kotau. So will Tusk am Sondergipfel am Montag in Bulgarien festhalten, der eigens für Erdogan veranstaltet wird. Zudem will die EU nochmals 3 Mrd. Euro freigeben.
Siehe auch “Afrin: Europa schaut weg”
Insgesamt dürfte auch dieser EU-Gipfel den Versuch unternehmen, die Fassade der Einheit zu wahren. Das heißt aber auch, dass keine klaren Reaktionen auf die Provokationen der “Partner” zu erwarten sind.
Angesichts immer neuer Krisen wirkt die EU nicht selbstbewußt und offensiv, sondern kleinlaut und zutiefst verunsichert. Ist es nicht genau das, was Trump, Putin und Erdogan erreichen wollten?
WATCHLIST:
- Was wird aus dem “Aufbruch für Europa“, was aus dem deutsch-französischen “Motor”? Im Vorfeld des Gipfels war davon nichts zu erkennen, im Gegenteil: Die Kanzlerin spielte ein doppeltes Spiel und bändelte auch mit den Macron-Gegnern an. Ergreift sie nun doch noch die Initiative – oder spielt sie auf Zeit, bis zum nächsten Gipfel im Juni?
WAS FEHLT?
- Vertrauen in den Verbraucherschutz. Mit seiner Genehmigung der Megafusion von Bayer und Monsanto habe die EU-Kommission dieses Vertrauen weiter unterwandert, kritisiert der Europaabgeordnete M. Häusling (Grüne). Zudem drohe Gefahr für die Landwirtschaft, da Bauern nach der Chemieehe kaum noch eine Wahl hätten, wo sie ihr Saatgut kaufen.
hyperlokal
22. März 2018 @ 08:51
Ich glaube nicht, dass der Satz stimmt:
“Trump, Putin, Erdogan: Gleich drei selbstherrliche Staatenlenker fordern die EU heraus.”
Trump und Erdogan ja, aber Putin? Wenn, dann fordert die EU hysterisiert durch die USA Putin heraus.
Putin reagiert auf diese Hysterie höchst rational und rational ist nichts anderes als vernünftig.
Dass die EU irgendwie demokratischer sei als Russland, das kann man doch nicht wirklich glauben. Ob an der Spitze ein starker Präsident oder eine amorphe aber allmächtige und unkontrollierbare Technokratie steht ist aus demokratischer Perspektive kein Unterschied und vom Ergebnis her sogar schlimmer.
Claus
22. März 2018 @ 08:46
Als Quintessenz dieses Beitrages (danke!) nehme ich mit in den Tag, dass entschiedenes politisches Handeln, egal wo man in der EU hinschaut, praktisch nicht mehr stattfindet, oder besser, wegen zunehmend erkennbaren Defiziten der demokratischen Legitimation nicht mehr stattfinden kann. Da wird nur noch laviert, geschwafelt und geschwurbelt (Merkel), weil irgendwo Irgendwer, mit dem man in einem schmutzigen Deal steckt (wie z.B. Erdogan, Flüchtlinge Zypern Kurden Waffenlieferungen etc.) durch Irgendwas in Verstimmung geraten könnte.
Da wird nur noch ausgesessen und beschwichtigt. Dazu Winston Churchill: „An Appeaser Is One Who Feeds a Crocodile, Hoping It Will Eat Him Last.“ Recht hatte er. Und dachte nicht an seine nächste Wahl, sondern an nächste Generationen seines Landes.
Peter Nemschak
22. März 2018 @ 07:22
Unsicherheit verbreiten vor allem die Medien, insbesondere die sozialen, die davon leben, den Erregungspegel der Gesellschaft hoch zu halten. Politik muss in kleinen Schritten erfolgen, insbesondere in einer Zeit erhöhter Diskontinuitäten und geringer Sichtweite. Das Herumreißen am Lenkrad durch den narzisstischen Emporkömmling Trump ist kontraproduktiv und Zeichen von Schwäche. Stärke zeichnet sich nicht durch reflexartiges Agieren aus. Die Mehrheit der Menschen, das wird von den Aufgeregten übersehen, geht ihren alltäglichen Geschäften wie gewohnt nach. Die täglichen Staus auf den Autobahnen und das geschäftige Treiben in den Städten sind sichtbare Zeichen dafür. Früher war es nicht anders, bloß, dass auf Grund der heutigen technologischen Möglichkeiten die Menschen for the better or worse „besser“ informiert sind oder es glauben zu sein. Ob das nach Aufregern gierende Hineinstarren in Mobiltelefone die Lebensqualität verbessert, muss jeder für sich entscheiden. Niemand ist gezwungen, alle Auswüchse und Narreteien unserer dauererregten Empörungsgesellschaft mitzumachen und sich dabei selber in Angst zu versetzen. Inneren Abstand halten erhöht die Lebensqualität.
Reinard Schmitz
22. März 2018 @ 09:46
Das tun viele Medien ohne Zweifel. Hinsichtlich des normalen Gangs des täglichen Lebens darf ich darf erinnern, dass die Zwanzigerjahre des vorigen Jahrhunderts die “Golden Twenties” genannt wurden … Das alles darf deshalb nicht darüber hinweg täuschen, dass die Zeiten wieder auf Krieg gebürstet werden, die Situationen werden zusehends mehr und mehr verfahren. Die Befürchtungen, dass es nur noch eines kleinen nichtigen Anlasses braucht, sind nach den Erfahrungen, wie es zum ersten Weltkrieg kam, wohl durchaus berechtigt. Und wohl auch unter mithilfe einer erheblichen Zahl von Medien.