Gelbwesten – Putsch oder Revolution?
Brennt Paris? Ja, vor Wut! Seit den letzten, verheerenden Demos werden die „Gilets jaunes“ (Gelbwesten) in der französischen Hauptstadt wie eine Bedrohung wahrgenommen. Schon das zeigt, dass es sich nicht um eine „normale“ Protestbewegung handelt – sondern um ein neues Phänomen.
Was soll man also von den Gelbwesten halten? Planen sie einen „Putsch“ gegen die Republik, wie man im Elysée-Palast fürchtet? Oder erleben wir eine neue Art der Revolution – 50 Jahre nach dem Pariser Mai 1968?
Hier einige Einschätzungen (Quelle: „Libération“)
- E. Todd, Soziologe: Für ihn handelt es sich nicht um eine populistische, sondern um eine populäre Bewegung, die an Mai ’68 anknüpft. Allerdings sieht er das Problem, dass sie vor allem in der Provinz verankert ist – Paris bleibt (noch?) außen vor
- D. Cohn-Bendit, Alt-68er: „Wir sind nicht in einer revolutionären Phase, sondern in einer Zeit der autoritären Versuchung“, sagte er. Die 68-er hätten gegen den General (De Gaulle) gekämpft, die Gelbwesten wollten einen neuen General an die Macht bringen (es geht um den von Präsident Macron gechassten General De Villiers)
- Ch. Mouffe, Philosophin: Sie sieht in den Gelbwesten eine gegen die herrschende Politik gerichtete Bewegung, die sich sowohl nach rechts auch nach links entwickeln könnte. „Ich wage zu hoffen, dass die aktuelle Entwicklung eine Perspektive für eine linkspopulistische politische Bewegung eröffnet“, so die Vordenkerin der Linksbewegung „La France insoumise“ .
Fest steht, dass die ersten Forderungen an den „Steuerrebellen“ Poujade erinnern, der in den 50er Jahren eine „Union zur Verteidigung der Händler und Handwerker“ gründete und weit nach rechts driftete.
Klar ist auch, dass radikale und extreme Kräfte versuchen, die Bewegung zu vereinnahmen. Viele „Gelbwesten“ trauen sich nicht mehr, mit der Presse zu reden, weil sie von „Hardlinern“ massiv bedroht werden.
Dieser Rückgriff auf Gewalt und Repression und der Versuch, die freie Berichterstattung (auch linksliberaler Medien wie „Libé“) zu unterdrücken, lässt nichts Gutes ahnen. Es liegt Wut in der Luft, teilweise auch Hass…
P.S. Mein Brüsseler „Libé“-Kollege J. Quatremer lässt an seiner Einschätzung der Gelbwesten keinen Zweifel – für ihn stehen sie stramm rechts… Siehe auch „Merkel, Macron und May – die Implosion der Macht“
Bürgerrechtler
10. Dezember 2018 @ 07:33
Neue Propaganda aus der EU-Mainstream Dreckspresse
„Kremls Hand“ wieder entlarvt – diesmal bei Gelbwesten-Protesten
https://de.sputniknews.com/politik/20181209323230074-russland-paris-proteste/
Es ist das passiert, was eigentlich zu erwarten war: Bei den Protesten der sogenannten Gelbwesten in Paris hat man im Westen inzwischen eine „russische Spur“ gefunden.
Wie war das noch nach dem Referendum zu Brexit?
Auch damals wollen die Medien sofort Russland’s Spur ohne jegliche Beweise oder Hinweise gefunden haben.
ebo
10. Dezember 2018 @ 09:03
Nach allem, was ich auf Twitter gesehen habe, wurde die „russische Spur“ bisher nur in englischsprachigen Accounts gefunden, vor allem in UK. Deren Einfluß auf die Franzosen dürfte jedoch minimal sein… Viel größer würde ich die Wirkung von Trumps ständiger Einmischung einschätzen. Er hat ha bereits zu den „gilet jaunes“ getwittert. Wenn überhaupt, dann müsste man also in beide Richtungen ermitteln!
Oudejans
10. Dezember 2018 @ 12:56
1776 ⟼ 1789.
(1838, als wettbewerbsmäßige Messungen begannen, betrug die Signallaufzeit zwischen beiden Küsten des Atlantiks durchschnittlich noch 1 451 460 Sekunden. Westwärts etwas länger, ostwärts etwas schneller. Heute liegen wir unter einer Sekunde.
Daß die Franzosen statt dreizehn noch immer länger als zwei Jahre – also ein Siebentel statt eines Millionstels – für ihre Bewußtseinsbildung benötigen, wird dem technischen Fortschritt tatsächlich nicht gerecht.
Andererseits: wie lange heißt es schon ‚Busse & Bahnen. Grüne Welle für Vernunft.‘? Da gehen wir schon auf das vierte Trēdecennat zu.)
Ute Plass
9. Dezember 2018 @ 13:35
Bezüglich der in den Kommentaren mehrmals erwähnten „Autoritäre Versuchungen“.
Das ist der Titel des neuen Buches von W. Heitmeyer, (sehr lesenswert) in dem er sich immer wieder auch auf seine Forschungsarbeiten über „Deutsche Zustände“ bezieht.
Heitmeyer thematisiert u.a. die gefährliche Entwicklung eines ‚autoritären Kapitalismus,
die unaufhaltsame kapitalistische Landnahme, die Ökonomisierung des Sozialen, sowie die Ökonomische Dominanz als Quelle für Anomie und Kontrolllosigkeit‘.
Noch kann nicht davon gesprochen werden, dass die Gelbwesten-Bewegung das Gespenst
eines autoritären Nationalismus und Rechtspopulismus heraufbeschwören. Daher sollte Cohn-Bendit sein Orakeln unterlassen und sich die Mühe machen zu verstehen, was die
Menschen, die es auf öffentliche Plätze und Strassen treibt, im wahrsten Sinne des Wortes
bewegt.
Die Versuche, die Bewegung in rechts und links einzuordnen, greifen ebenfalls zu kurz:
https://www.freitag.de/autoren/elsa-koester/frankreich-gelbwesten-protest-bewegung
ebo
9. Dezember 2018 @ 15:33
Richtig, das links-rechts-Schema greift nicht mehr. Auch die „Populismus“-Keule greift nicht, wenn das Volk auf die Barrikaden geht. Allerdings ist es nicht das ganze Volk. Es ist eher Land gegen Stadt, Provinz gegen Paris, Arm gegen Reich. Ein neuer Klassenkampf, der sich auch gegen die Politik richtet, die die EU vorschreibt und von Macron verlangt…
Oudejans
9. Dezember 2018 @ 20:21
>>“Heitmeyer thematisiert u.a. die gefährliche Entwicklung eines ‘autoritären Kapitalismus,
die unaufhaltsame kapitalistische Landnahme, die Ökonomisierung des Sozialen, sowie die Ökonomische Dominanz als Quelle für Anomie und Kontrolllosigkeit’.“
Man muß wahrscheinlich kein Denksportler sein, um zu erahnen, daß 15 Jahre Existenzangst qua Hartz IV ihre Wirkung nicht verfehlt haben. Davon über 13 Jahre unter dem liebenden™ Auge von „Mutti“.
>>“Allerdings ist es nicht das ganze Volk.“
Meines Wissens schon 1789 hat der Hofstaat sich nicht selbst geköpft…
(-;
Oudejans
8. Dezember 2018 @ 19:59
Wenn der Sternenkranz auf dem Gendarmeriepanzer (Streitkräfte) real und das betreffende Foto (Berruyer) glaubwürdig ist, muß man sagen: vor 75 Jahren standen wir noch mit unseren eigenen Panzerwagen in Paris. Wie schön, wie kapitalschonend, wie regelbasiert, wie reibungslos demgegenüber heute das Zusammenleben funktioniert.
ebo
8. Dezember 2018 @ 21:38
Regelbasiert ist gut. Ich warte nur noch darauf, dass Moscovici jetzt die Defizitregel zitiert und Macron ein paar Extra-Kürzungen aufdrückt. Dann ist alles perfekt
Oudejans
9. Dezember 2018 @ 05:44
Will not happen. (Because it is France.)
Selbstentleibung ist question d’honneur.
So die EU.
Aus Angst vor China schaffen wir chinesische Zustände.
Sinophobie als Staatsraison der EU.
Peter Nemschak
8. Dezember 2018 @ 15:55
Die autoritäre Versuchung, wie von Cohn-Bendit erwähnt, ist ein weltweites Phänomen. Die Menschen wollen Stabilität und sind bereit ihre Freiheit zurückzustellen. Derzeit schlägt wieder einmal die imaginierte Gemeinschaft die anonyme Gesellschaft.
hyperlokal
8. Dezember 2018 @ 13:04
Es wird natürlich versucht, den Gelbwesten eine „AfD-Nähe“ anzudichten. Das mit der Forderung nach Steuersenkung (Steuerrebellen) entspricht diesem Klischee, das auch von Spiegel und Co. verbreitet wird. Die Forderung nach Zurücknahme der Vermögenssteuer vergessen sie dann zu erwähnen. Das würde eine AfD aber garantiert nicht fordern.
Es scheint sich tatsächlich stark tendenziell um eine linke Bewegung zu handeln und zwar links im eigentlichen Sinne: eine Bewegung der kleinen Leute.
https://www.nachdenkseiten.de/?p=47676
Das bei dem anarchischen Charakter der Bewegung auch Gewaltbereite und Extreme ihr Süppchen kochen, lässt sich nicht vermeiden. Dies in den Griff zu bekommen, ist Aufgabe der Polizei wie bei jeder Demonstration.
ebo
8. Dezember 2018 @ 13:49
Auf die Vermögenssteuer habe ich bereits hingewiesen. Aber ansonsten sind die Forderungen der Geldwesten sehr diffus und in sich widersprüchlich, à la weniger Steuern aber mehr Beamte, kein Tempolimit aber mehr Klimaschutz etc.
Peter Nemschak
9. Dezember 2018 @ 10:05
Hinter dem Diffusion verbirgt sich scheinbar der Wunsch nach Gleichheit. Dahinter wird allerdings die Sehnsucht nach einem guten Leben – was immer das sein mag -für alle sichtbar. Eine immer wiederkehrende Metapher im sozialen Diskurs ist die von der work-life balance, einer Sehnsucht nach Stabilität in einer mehr und mehr beschleunigten Welt. Daher finde ich die Einschätzung von Cohn-Bendit (autoritäre Versuchung) sehr treffend. Siehe auch Two Roads for the New French Right, Mark Lilla, in The New York Review of Books.
Peter Nemschak
9. Dezember 2018 @ 18:37
„Die Kunst der Besteuerung besteht ganz einfach darin, die Gans so zu rupfen, dass man möglichst viel Federn bei möglichst wenig Geschrei erhält.“
– Jean Baptiste Colbert, Finanzminister unter Ludwig XIV
Oudejans
8. Dezember 2018 @ 15:29
>>”Es wird natürlich versucht, …”
Nun ist Quatremer allerdings nicht Spiegel & Co und schreibt auch nicht aus deutscher Perspektive.
hyperlokal
8. Dezember 2018 @ 19:23
So widersprüchlich sind die Forderungen doch nicht. Der Zusammenhang ist glasklar: Macron erhöht die Benzinsteuern und streicht gleichzeitig die Vermögenssteuer. Er hat noch nicht einmal auf die nächste Fußballweltmeisterschaft gewartet, um diesen unverschämten Umverteilungs-Coup heimlich durchzuziehen. Jetzt fordern die Revolutionäre, dass er das zurück- und gleichzeitig seinen Hut nimmt. Ich finde diese Forderungen ziemlich logisch und überhaupt nicht widersprüchlich.
Oudejans
8. Dezember 2018 @ 13:03
Analog die Gefahr in Deutschland: Höckes hat es immer gegeben. Sie waren aber immer darauf angewiesen, daß ihnen jemand ein Wutreservoir verschafft. Das ist mehr und mehr gegeben.
ebo
8. Dezember 2018 @ 13:47
Wirklich? Werden die Diesel-Fahrer auf die Barrikaden gehen?
Oudejans
8. Dezember 2018 @ 15:27
Schwer einschätzbar. Vielleicht hat die deutsche Politik es zu gut verstanden, die Froschsuppe nur peu à peu heißer zu stellen.
In F kommen jetzt zu einer seit Jahren wachsenden FN-Gefolgschaft ad hoc „freie“ Unzufriedene, und es bleibt abzuwarten, welche etablierte politische Kraft (inkl. FN) sie für sich wirken lassen kann; Oder, zu welcher sie bereits gehören, ohne daß das gerade zum Ausdruck kommt.
Und zu einschnürenden politischen Entscheidungen kommt seitens Macron ein völlig überflüssiger herablassender Duktus, bei dem man sich fragt, wieso er denn eine ältere Frau geheiratet hat, wenn diese ihn nicht einmal vor den dümmsten Dummheiten der Jugend bewahrt.
Die Rede vom Putsch würde implizieren, daß eine bereits formierte gesellschaftliche Kraft die künftigen Verhältnisse bestimmt, die von der Revolution würde zunächst eine Phase des Chaos implizieren, in dem sich dann eine dominante, ordnungsfähige Richtung herausbilden muß.