Frivoles Experiment

Der Euro kommt nicht zur Ruhe. Nach der Krise an den Finanzmärkten droht nun ein „politisches Risiko“, warnen Experten: Länder wie Italien oder Spanien könnten unregierbar werden. Dabei ist das eigentliche Problem nicht die Demokratie, sondern eine Marktreligion, die sich über die Demokratie erhebt.

Von Wolfgang Streeck

Die Einführung des Euro um die Jahrtausendwende, die den europäischen Binnenmarkt vollenden sollte, schuf eine politische Jurisdiktion, die dem Ideal einer durch Politik von Politik befreiten Marktwirtschaft sehr nahe kommt. Eine politische Ökonomie ohne Parlament und Regierung, zusammengesetzt zwar aus nach wie vor formal unabhängigen Nationalstaaten, die aber für immer auf eine eigene Währung verzichtet haben. Und damit auf die Möglichkeit, zur Verbesserung der wirtschaftlichen Situation ihrer Bürgerinnen und Bürger das Mittel der Abwertung ihrer Währung einzusetzen.

Der Euro eliminierte damit eine wichtige Möglichkeit für politische Eingriffe in den gemeinsamen Markt und legte Regierungen der Mitgliedstaaten, denen an Beschäftigung, Wohlstand und sozialer Sicherheit ihrer Bevölkerung gelegen ist, auf das neoliberale Instrumentarium einer sogenannten inneren Abwertung fest: auf die Steigerung von Produktivität und «Wettbewerbsfähigkeit» durch flexiblere Arbeitsmärkte, niedrigere Löhne, längere Arbeitszeiten, eine höhere Erwerbsbeteiligung und einen auf Marktmechanismen umgestellten Wohlfahrtsstaat.

Die Einführung des Euro ist ein Beispiel dafür, wie eine Gesellschaft – die hoch heterogene transnationale Gesellschaft des Eurolands – in einem, mit Karl Polanyi gesprochen, «frivolen Experiment» im Geiste einer politisch-ökonomischen Ideologie in eine Marktgesellschaft nach den Blaupausen der Standardökonomie umgebaut werden soll. Und dies ohne Rücksicht auf bestehende Institutionen und Traditionen.

Kapitalistische Landnahme

Indem die Abwertung der Währung als Mittel nationaler Wirtschaftspolitik ausgeschaltet wird, wird allen der gemeinsamen Währung unterstellten Ländern ein einheitliches Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell aufgepfropft. Zugleich wirkt die Währung als Triebkraft jener universellen Expansion von Märkten und Marktverhältnissen, die wir als kapitalistische Landnahme bezeichnen. Im Modus dessen, was Polanyi «planned laissez faire» genannt hat, sucht sie Staaten und ihre Politik durch Märk­te und deren selbst regulierende Automatik mehr oder weniger gewaltsam zu ersetzen.

Insofern gleicht sie dem Goldstandard des 19. Jahrhunderts, dessen verheerende Wirkung auf die Fähigkeit der damals entstehenden Nationalstaaten, ihre Völker vor den Unberechenbarkeiten des Marktes zu schützen, Polanyi in den ersten Kapiteln seines grossen Buchs «The ­Great Transformation» von 1944 so eindrucksvoll analysiert hat.

Im Rückblick fällt es leicht, in der gegenwärtigen europäischen Wirtschafts-, Finanz- und Fiskalkrise Manifestationen einer politischen Gegenbewegung gegen den in der Gemeinschaftswährung institutionalisierten Marktfanatismus zu erkennen.

Bis vor kurzem, bis zur Einsetzung der Kommissare Lucas Papademos in Griechenland und Mario Monti in Italien, bestand die europäische Währungsunion ausschliesslich aus demokratischen Staaten. Deren Regierungen konnten oder wollten es sich nicht leisten, ­ihren real existierenden Staatsvölkern, die sich von den Modellvölkern der reinen marktkapitalistischen Lehre noch immer fundamental unterscheiden, den Krieg zu erklären und sie durch die Mangel der von Brüsseler Technokraten und globalisierten Universalökonomen vorgeschriebenen «Reformen» zu drehen.

Der Widerstand entsteht spontan

Wie frühere Gegenbewegungen hielten sich die Nationalstaaten, die sich unter dem Euro zusammenschlossen, nicht immer an den Kanon des politisch Korrekten oder wirtschaftlich Rationalen. Anders als das ideologiegetriebene «laissez faire» entsteht der gesellschaftliche Widerstand gegen den Markt, wie Polanyi wusste, spontan und planlos.

So kam es zu den Haushaltsdefiziten, der Staatsverschuldung und den Kredit- und Preisblasen in denjenigen Ländern, die mit dem vorgegebenen Tempo der kapitalistischen Rationalisierung ihrer Lebensweisen und Lebenswelten nicht mitkamen oder mitkommen wollten.

Der ihnen zu ihrem Selbstschutz verbliebene Werkzeugkasten hielt nichts Besseres bereit als die allmähliche Aufhäufung jener systemischen Störungen, die nun seit Jahren drohen das europäische Staatensystem zu zerreissen und den langen Nachkriegsfrieden zwischen den europäischen Natio­nen zu beenden.

Politische Enteignung

Was derzeit geschieht, kommt daher, als stamme es aus einem Bilderbuch von Polanyi. Der Widerstand der von ihren Nationalstaaten vertretenen Völker gegen die Unterwerfung ihres Lebens unter die Marktgesetze wird von der Marktreligion als Unregierbarkeit wahrgenommen, die durch weitere Reformen derselben Art behoben werden muss und kann, durch neue Institutionen, die auch noch den letzten Rest an nationaler Artikulationsfähigkeit aus dem System herausquetschen sollen.

So würde dann doch noch die auf Jahrzehnte verhängte Austerität für die kleinen Leute in den vom Markt als nicht wettbewerbsfähig zurückgelassenen Ländern realisiert und damit das frivole Experiment einer Einheitswährung für eine heterogene, multinationale Gesellschaft zum Erfolg kommen. Am Ende, nach den Reformen, würden die Nationen sich ihre politische Enteignung gefallen lassen, entweder weil ihnen nichts anderes übrig bliebe oder weil sie irgendwann zur Marktvernunft gekommen wären und – wenn sie erst einmal genug gefühlt hätten – anfangen würden zu hören.

Freilich: Daran muss man glauben, denn sehen kann man es noch nicht. Was man sieht, sind wachsende Konflikte zwischen den Völkern und innerhalb der Völker darüber, wie viel die einen den anderen schulden – an Kompensationszahlungen einerseits und «Reformen» andererseits – und wer von den kleinen Leuten und den grossen wie viel von den Kosten tragen muss und vom Nutzen davontragen darf.

Recht auf Abwertung

Wer im Glauben fest ist, kann darauf hoffen, dass die real existierenden Staatsvölker Europas irgendwann – und in den Modellen der Standardökonomie, in denen Zeit nicht vorgesehen ist, ist «irgendwann» immer auch gleich jetzt – zu einem an den freien Markt angepassten geeinigten Modellvolk zusammenwachsen werden. Aber wer der Kirche nicht angehört, der kommt aus dem Staunen über die Macht der Illusion nicht heraus und darüber, was eine Theorie dadurch anrichten kann, dass sie nicht von dieser Welt ist.

Statt zuzusehen, wie neoliberale Politik die Währungsunion durch «Reformen» vollendet, die den Markt endgültig gegen politische Korrekturen immunisieren und das europäische Staatensystem als neoliberalen Konsolidierungsstaat festigen würden, sollte man sich und andere an die Institution der Abwertung der Währung erinnern.

Das Recht auf Abwertung ist der institutionalisierte Ausdruck des Respekts vor den von ihren Staaten vertretenen Nationen als jeweils besonderen, wie immer auch historisch und politisch konstruierten wirtschaftlichen Lebensgemeinschaften. Es wirkt als Bremse gegen den vom Zentrum auf die Peripherie ausgeübten kapitalistischen Expansions- und Rationalisierungsdruck und bietet Interessen und Identitäten, die diesem entgegenstehen und in der Freihandelswelt des grossen Binnenmarkts in Populismus und Nationalismus abgedrängt würden, eine realistische kollektive Alternative.

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Der Autor ist  ist Direktor des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung in Köln. Der Beitrag wurde mit seiner freundlichen Genehmigung aus der Schweizer „Wochenzeitung“ übernommen