EU-Vorsitz: Demokratie ist Mist!
Opposition ist Mist, pflegte der alte Müntefering zu sagen. Demokratie ist Mist, heißt es jetzt vom amtierenden EU-Vorsitz. Jedenfalls, wenn eine Volksabstimmung nicht das gewünschte Ergebnis bringt.
Er sei „vollständig, vollständig, vollständig gegen Volksentscheide über multilaterale Abkommen“, sagte der niederländische Regierungschef Rutte mit Blick auf das verlorene Ukraine-Referendum in seinem Land.
Das Ergebnis sei „verheerend“, fügte der konservative Politiker hinzu. Dass er daran selbst sein Schuld könnte, fiel ihm jedoch nicht ein. Dabei hätte die Regierung ja besser informieren können.
Wie er mit der Pleite umzugehen gedenkt, wollte Rutte auch noch nicht verraten – dabei wartet Brüssel seit Wochen auf eine Antwort. Vermutlich wird man es einfach übergehen, als sei nichts passiert.
Damit wird der EU-Frust zwar weiter verstärkt – und der Vorwurf, dass die EU-Politiker die Demokratie mit Füssen treten, bekräftigt. Doch das macht nichts. Die Niederlande sind ja nur ein kleines Land.
Wichtig sind nur die „großen Drei“ Deutschland, Deutschland und Deutschland – pardon: Frankreich und Großbritannien. Deshalb haben Rutte & Co. auch so eine Heidenangst vor dem Referendum in UK.
Ob sie sich danach wohl einen Trick einfallen lassen, Volksabstimmungen zu verbieten? Damit sie „vollständig, vollständig, vollständig“ durchregieren können?
hlschmid
14. Juni 2016 @ 19:01
„Er sei ‚vollständig, vollständig, vollständig gegen Volksentscheide über multilaterale Abkommen’, sagte der niederländische Regierungschef Rutte mit Blick auf das verlorene Ukraine-Referendum in seinem Land. Das Ergebnis sei ’verheerend’“ –
Verheerend ist es vielmehr, wenn Volksentscheide einfach umgangen oder von den EU-Politikern mit Tricks verboten werden: Das Vertrauen der Bürger sinkt weiter gegen Null, ihre Frustration steigt ins Unermessliche, die EU-kritischen Parteien erhalten noch mehr Zulauf. Dringend nötig wäre vielmehr endlich eine breite Grundsatzdiskussion über die Zukunft unseres Kontinents unter Einbezug der Bürger in ganz Europa. Alle Europäer sind eingeladen, an dieser Debatte teilzunehmen und ihr Europa zu wählen auf http://www.our-new-europe.eu!
Peter Nemschak
15. Juni 2016 @ 08:42
Das setzt eine kritische Debatte außerhalb des Boulevard voraus. Diese vermisse ich bisher.
Skyjumper
15. Juni 2016 @ 09:35
@ Peter Nemschak
Ich weiß ja was Sie meinen wenn Sie „Boulevard“ schreiben. Gleichwohl möchte ich Ihnen in dieser Hinsicht widersprechen. „Kritisch“ sollte es durchaus sein, aber es wäre gut wenn die Debatte gerade auf den „Boulevard“ stattfinden würde. Nur da (und auf die Weise) erreichen Sie nämlich die breiten Schichten.
Was es bräuchte wären gegensätzliche Standpunkte die vertreten werden. Dann ist es auch fast egal wenn die öffentliche Diskussion großteils auf Stammtischniveau bleibt. Ich würde es sogar begrüßen wenn sich Entscheidungen auf Stammtischniveau reduzieren würden. Dann versteht man sie nämlich. Viele Punkte sind heute (künstlich) auf ein Level gepushed das niemand, bis auf eine Handvoll Spezialisten, das noch versteht. Und sowas ist mittelfristig durchaus kritisch für den gesellschaftlichen Zusammenhalt.
Auch wenn die allermeisten Menschen unserer Gesellschaft in politisch/gesellschaftlichen Fragen nicht besonders engagiert sind, dumm sind diese Menschen in den meisten Fällen trotzdem nicht und meistens durchaus in der Lage sich ein differenziertes Meinungsbild für eine Entscheidung zu machen.
Im übrigen ist es so, dass die angebliche Inkompetenz in ihrer Gefahr deutlich überbewertet wird. Gerade die in diesen Bevölkerungsanteilen ist nämlich die Beteiligung sowohl an der repräsentativen Demokratie (Wahlen) als auch an der direkten Demokratie (Volksentscheide) relativ gering. Der Einfluß dieser Gruppen bliebe also so oder so (freiwillig) gering.
Gesellschaft, Staat und Politik und die Verflechtungen und Wechselwirkungen sind KEIN Selbstnutzt, wie einige (gerade wenn sie in Staat, Politik tätig sind) zu meinen scheinen. Gesellschaft, Staat und Politik haben sich entwickelt um das Zusammenleben der Menschen zu erleichtern. Ihr Zweck ist es Menschen zu dienen, nicht umgekehrt. Und insoweit mag es ja gerne so sein dass man Staat, Politik und Gesellschaft objektiv perfekter organisieren könnte. Doch da die Menschen denen es dienen soll nicht perfekt sind ist/wäre das ein kontraproduktiver Irrweg. Der Mensch mit seinen oftmals mangelhaften Fähigkeiten muss der Maßstab bleiben.
Sonst fegt der Mensch den unverstandenen „Scheiß“ irgendwann einfach beiseite.
Ich verstehe Ihre Bedenken und Ihre Skepsis. Aber das was dabei in Konsequenz herauskommen würde, hätte dann mit Menschenwürde und Selbstbestimmung nur noch wenig zu tun.
Skyjumper
14. Juni 2016 @ 14:50
Ich meine es wäre durchaus legitim, und täte der Demokratie in jeder Hinsicht gut, wenn man die demokratischen Strukturen gründlich auf den Prüfstand stellen würde.
Dabei sollte man nicht vergessen zu fragen warum etwas so ist wie es im Moment ist. Wann ist das Verfahren entstanden? Welche lebenspraktischen Rahmenbedingungen bestimmten zu dieser Zeit vielleicht die Entscheidung ein Verfahren so und nicht anders zu händeln?
In nur 20 Jahren haben die meisten Menschen in Deutschland viele ihrer Lebensgewohnheiten gründlich umgekrempelt. Nicht zwingend weil sie mussten, sondern weil sie, bedingt durch technische Neuerungen, konnten. Wir telefonieren wo wir gehen und stehen, wir betätigen uns in sozialen Netzwerken, wir schreiben keine Briefe mehr sondern mailen oder chatten. Lexika sind Auslaufartikel weil das Internet viel aktueller und umfassendere Informationen liefern kann. Politiker und Promis von der „a“ bis zur „z“ Kategorie twittern wie die Weltmeister. Kurzum, die Möglichkeiten der elektronischen Datenverarbeitung haben unser Leben komplett auf den Kopf gestellt.
Warum eigentlich nicht unsere Demokratie? Was vor 150 Jahren noch aus rein praktisch/technischen Erwägungen heraus völlig undenkbar gewesen wäre, wäre heute relativ simpel machbar. Zwischen morgendlichen Duschen und dem Frühstück könnte man bereits die ersten 2 Abstimmungen zu den anstehenden Entscheidungen der Regierungen vorgenommen haben. Brauchen wir eigentlich noch Abgeordnete die uns im Rathaus, im Landtag, im Bundestag repräsentieren? Wenn doch jeder Bürger jederzeit und zu allen Punkten von der Exekutive direkt zu seinem Votum aufgefordert werden kann?
Ich kann mir vorstellen dass man da am Ende mit guten Gründen zu weniger radikalen Lösungen käme. Aber so eine Grundsatzdiskussion darüber wie gelebte Demokratie im 21. Jahrhundert aussehen kann, die täte mal gut.
S.B.
14. Juni 2016 @ 15:47
@skyjumper: Sie Ketzer! 😉 Rühren Sie bloß nicht an der – nicht vorhandenen – Daseinsberechtigung unserer äußerst zahlreichen „Volksvertreter“. Auch und gerade nicht, wenn diese nur noch zum Schein besteht. Und wo deren Daseinsberechtigung tatsächlich noch besteht, dann bestimmt nicht im Interesse des Volkes. Geschätzt mindestens 50 Prozent dieser Spezies wäre 3 Wochen nach dem Verlust ihres Mandats verhungert, da keinerlei verwertbare Fähigkeiten vorhanden sind, um ein nicht zwangssubventioniertes Leben eigenverantwortlich zu bestreiten. Und vom substanzlosen Dummschwatzen, kann man in der außerparlamentarischen Realität eben nicht leben. Nein, bitte bloß nichts an diesem scheindemokratischen Schmarotzer-System ändern! Das gilt selbstverständlich nur für diese Nichtsnutze. Für alle anderen gilt das genaue Gegenteil. Fremdbestimmt von den Nichtsnutzen.
Anonymous
14. Juni 2016 @ 10:44
Nun ja, die Gleichung Referendum = Demokratie, aber Parlamentsabstimmung ungleich Demokratie aufgeht, ist dann noch fraglich… Man kann schon sinnvoll darüber streiten, welche Fragen für Referenda geeignet sind und welche nicht. Und sich grundsätzlich gegen Referenda bei bestimmten Fragen auszusprechen, macht einen ja nicht gleich zum Undemokraten…
Peter Nemschak
14. Juni 2016 @ 10:21
Wozu gibt es eine repräsentative Demokratie? Volksabstimmungen sind sehr leicht durch den Boulevard manipulierbar. Das wissen Populisten jedweder Farbe und sind daher Verfechter der direkten Demokratie, die auf dem Klavier der Emotionen spielt. Volksabstimmungen sollten sparsam eingesetzt werden, jedenfalls nicht über Themen, welche den Sachverstand der Bürger überfordern. Nicht umsonst gibt es in der parlamentarischen Demokratie Parlamentsausschüsse, die von den Parteien mit Leuten beschickt werden, die sich mit den relevanten Themen in der Tiefe befasst haben. Wer sich durch die gewählte Partei schlecht vertreten fühlt, hat die Möglichkeit bei der nächsten Wahl eine andere zu wählen.
S.B.
14. Juni 2016 @ 11:09
@Peter Nemschak: Was nach Ihrer Lesart bei Volksabstimmungen die Populisten sind, sind bei Parlamentariern die Lobbyisten. Sachverstand spielt auch bei Letzteren weniger eine Rolle. Er ist ohnehin kaum vorhanden (siehe die Lebensläufe der Parlamentarier)und wird in aller Regel durch Ideologie oder die Interessen Dritter ersetzt. Ganz nebenbei werden Parlamentarier vor Wahlen regelmäßig selbst zu Populisten. Das Volk kennt den Umgang dieser Gattung also zur Genüge.
Skyjumper
14. Juni 2016 @ 14:14
Wie @Anonymous unten schon sagte ist es sicherlich unzulässig verkürzt die Gleichung aufzustellen das ausschließlich Entscheidungen per Referendum demokratisch wären.
Die (leicht provokative) Frage aufzustellen „wozu gibt es eine repräsentative Demokratie“ ist jedoch genauso verkürzt. Da könnte man auch fragen wozu es direkte Demokratie gibt? Fakt ist doch das es beide Extremata in ihrer jeweils reinen Ausprägung kaum gibt. In fast allen demokratischen Staaten gibt es Mischformen mit unterschiedlichen Gewichtungen. Deutschland hat eine extrem repräsentative Staatsorganisation und es wurde ja bereits durchaus versucht nachzubessern. i.V.m. dem europäischen System überschreitet es für meinen persönlichen Geschmack dennoch die Grenze dessen was ich noch als demokratisch bezeichnen würde.
Der Souverän wählt eine Partei (= direkt)
Die Partei bestimmt/wählt einen Abgeordneten (1. Repräsentationsstufe)
Die Abgeordneten wählen eine Regierung (2. Repräsentationsstufe)
Die Regierung nominiert ein Mitglied der europ. Kommission (3. Repräsentationsstufe)
Und von da ab geht es dann zur faktischen Arbeitserledigung wieder über verschiedene Stufen runter bis zum Lobbyisten. Das ist (für mich) einfach zu indirekt. Und gerade bei wichtigsten, sprich richtungsweisenden, Entscheidungen wäre eine direkte Entscheidung m.E.n. durchaus angebracht. Bleiben wir mal bei Rutte und dem Ukraineentscheid: Als der Wahlkampf lief dem Rutte seine Benennung verdankt war diese Frage gar nicht absehbar. Wähler konnten daher die Parteien gar nicht zu ihrer diesbezüglichen Einstellung befragen. Nun gibt es derartige Vorkommnisse oft, und es wäre nicht besonders praktisch jedesmal einen Volksentscheid durchzuführen. Dazu jedoch in einem seperaten Beitrag mehr.
Skyjumper
14. Juni 2016 @ 09:53
„Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland Art 20
(1) Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.
(2) Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.
(3) Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden.
(4) Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.“
Und bei all dem Palaver darüber dass das Volk/die Völker nichts taugen wenn es um politische Entscheidungsprozesse geht wird sich irgendwann jemand finden der unter Verweis auf den oben zitierten Artikel des GG der Meinung ist dass das Fass voll ist.
Rutte steht ja beileibe nicht alleine mit seiner Meinung im Kreis der politischen Führungsriege. Ich sehe durchaus die Gefahr sich mit diesen unseeligen Gerede vom „Primat der Politik“ eine RAF 2.0 heranzuzüchten. Wenn Bevölkerungsteile, selbst wenn es nur kleine sind, keine demokratischen Wege mehr gehen können um ihrer Meinung Ausdruck zu verleihen, bleibt irgendwann nur noch der illegale, gewalttätige Weg.
Verbaut man kleinen Gruppen (Minderheiten) den Zugang zur Entscheidungen läuft man Gefahr Terroristen zu züchten. Verbaut man großen Gruppen (Mehrheiten) den Zugang zu Entscheidungen läuft man Gefahr eine Rebellion zu züchten.
S.B.
14. Juni 2016 @ 09:06
Rutte ist eben eine echte Ratte, eine Demokratte (richtig gelesen!… mit Doppel-t).