Deutscher EU-Vorsitz: Freibrief für Erdogan

Die Türkei heizt den Krieg in Berg-Karabach an, Frankreich fordert die Rückkehr des Europaparlaments nach Straßburg – und Ungarn und Polen gründen ein eigenes Rechtsstaats-Institut: Die Watchlist EUropa vom 29. September 2020.

Erst die „Öffnung“ der türkischen Grenze zu Griechenland, dann die Waffenlieferungen nach Libyen und die Gasbohrungen im östlichen Mittelmeer, nun die kaum verhüllte Militär-Intervention in Berg-Karabach: Der türkische Sultan Erdogan ist auf imperialem Kurs – gegen die EU.

Jeden Tag kommen neue Beweise hinzu. Heute meldet „Reuters“, dass Erdogan syrische „Rebellen“ – also islamische Djihadisten – nach Aserbaidschan schickt, um dort den Krieg gegen Armenien anzuheizen.

Da müssten in Berlin und Brüssel alle Alarmsirenen schrillen, sollte man meinen. Schließlich begingen türkische Truppen in Armenien den ersten Völkermord der modernen Geschichte (mit deutscher Hilfe).

Erdogan versündigt sich nicht nur an der Historie, sondern auch an der Kaukasus-Politik der EU – genau, wie er die Libyen-Politik ad absurdum geführt hat: Mit Söldnern aus Syrien und Militärgerät made in EU.

Doch es passiert – nichts. In Brüssel hat EU-Ratspräsident Michel die Agenda für den Gipfel am Donnerstag umgestellt – Thema Nummer eins soll nun der Binnenmarkt sein, und nicht die Türkei (wie ursprünglich geplant).

Derweil hat Berlin entschieden, dass es keine Türkei-Sanktionen geben wird. Der deutsche EU-Vorsitz in Berlin habe dies der Regierung in Nikosia unmißverständlich klar gemacht, schreibt „Knews“ aus Zypern.

„The German officials said sanctions have no substantial effect. They are, as they said, a dead-end strategy, which instead of getting Turkey in line, intensifies its challenges and leads it to more extreme positions.

Komischerweise gilt dieses „Argument“ für Belarus nicht. Zypern soll den Weg für Belarus-Sanktionen frei machen – aber Türkei-Sanktionen soll es nicht geben. Denn die bringen ja angeblich ohnehin nichts!

Wenn der Bericht stimmt, hat Merkel ihrem „Partner“ Erdogan einen Freibrief ausgestellt. Er kann ab sofort tun und lassen, was er will – denn Deutschland wird sich gegen Türkei-Sanktionen stemmen. Unglaublich!

„Europa ist hilflos“

Der Sultan habe die EU genau da, wo er sie haben wollte, schreibt die „Welt“ resignierend. „Europa ist hilflos, denn Erdogan hat ein perfektes Druckmittel. Gemeint ist natürlich der Flüchtlingsdeal, den Merkel 2016 mit Erdogan geschlossen hat.

Rein zufällig soll dieser Deal nun verlängert werden. Nicht nur Merkel ist dafür, sondern auch ihre Parteifreundin von der Leyen. Denn ohne neuen Türkei-Deal wäre auch der schöne neue „Migrationspakt“ nichts wert…

Zu diesem Artikel gibt es einen UPDATE. – Siehe auch „Die neue europäische Lösung heißt Abschiebung“ (zum Migrationspakt) und „Mit halbgaren Sanktionen in die Sackgasse“

Watchlist

Raufen sich Brüssel und London doch noch zusammen?  Am Dienstag beginnt die neunte Verhandlungsrunde über ein Handelsabkommen für die Zeit nach der Brexit-Übergangsphase. Die bisherigen Runden haben keine greifbaren Ergebnisse gebracht. Zudem wird im Londoner Unterhaus am Abend erneut über das umstrittene Binnenmarktgesetz abgestimmt, das Teile des bereits gültigen EU-Austrittsabkommens aushebeln soll. Das scheint die EU aber nicht mehr zu stören… – Mehr hier

Was fehlt

Das Machtwort von Macron. Der französische Präsident hat die sofortige Rückkehr des EU-Parlaments nach Straßburg gefordert. „Es obliegt Ihnen, die Rückkehr zur institutionellen Normalität und die Wiederaufnahme der Plenarsitzungen in Straßburg ab Oktober unverzüglich umzusetzen“, heißt es in einem Schreiben Macrons an EU-Parlamentspräsident Sassoli. Der lässt sich freilich nicht beeindrucken – auch die nächste Plenartagung soll in Brüssel stattfinden. Corona hilft dabei… – Mehr hier

Das Letzte

Der Streit um den Rechtsstaat gerät zur Farce. Nachdem der deutsche EU-Vorsitz Ungarn und Polen weit entgegen gekommen ist, „bedanken“ sich beide Länder nun mit der Gründung eines eigenen Instituts zur Überwachung der Rechtstaatlichkeit in allen EU-Staaten, wie der ungarische Außenminister Szijjarto am Montag ankündigte. “Das Ziel dieses Instituts des vergleichenden Rechts wäre, dass wir nicht zum Narren gemacht werden”, sagte Szijjarto. Na dann… – Mehr zum Thema hier

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