Ende des Neoliberalismus? – Nicht in EUropa
Weltweit erheben sich Menschen gegen korrupte Regimes, Armut und Unterdrückung. Manch einer sieht darin schon das Ende des Neoliberalismus. Doch Brüssel will davon nichts wissen.
Chile, Libanon, Bolivien, Kuweit, Irak: Eine so große und die Kontinente übergreifende Protestwelle hat es vielleicht noch nie gegeben. Dabei war sie schon lange vorausgesagt worden.
Schon 2008 prägte der US-polnische Politikwissenschafter Zbigniew Brzezinski, Berater von Lyndon B. Johnson und Jimmy Carter, den Begriff eines “globalen politischen Erweckungsmoments”.
Derzeit erlebte die Welt eine neue Ausformung, beschreibt es Samuel Brannen, Senior Fellow am Center for Strategic and International Studies, in einem aktuellen Beitrag (zitiert nach “Der Standard”).
Doch die EU schaut mal wieder weg. Offizielle Statements oder gar Solidaritäts-Bekundungen mit den Demonstranten sucht man in Brüssel vergeblich. Die Außenminister blenden die Krisen aus.
Das ist nicht erstaunlich. Seit dem “Arabischen Frühling” fürchtet man in der EU vor allem eins: Unruhe. Und seit den Protesten der Gelbwesten in Frankreich gilt Ruhe als erste Bürgerpflicht.
Erstaunlich ist hingegen, dass die EU unbeirrt an jenem neoliberalen Wirtschaftssystem festhält, das die Proteste und Aufstände in aller Welt provoziert hat. Hier ein paar Beispiele:
- Die EU setzt unbeirrt auf Liberalisierung und Freihandel – trotz Lohndumping und Klimakrise.
- Sie gibt Investoren immer noch Vorrang vor Bürgern (Schiedsgerichte, Binnenmarkt, EuGH).
- Sie hält an überholten Regeln fest – das 2-Prozent-Ziel für die EZB, die 3-Prozent-Regel für die Staaten.
- Sie kümmert sich nicht um Revolten gegen neoliberale Politik in Europa. Die Sozial-Proteste in Frankreich oder Rumänien wurden in Brüssel schlicht ignoriert.
- Sie lässt auch nicht erkennen, dass sich die Politik ändern könnte. Die neue EU-Kommission macht da weiter, wo die alte aufgehört hat, ein “Aufbruch” ist nicht in Sicht…
Europa gehe es eben besser als Südamerika oder dem Nahen Osten, könnte man einwenden. Schließlich haben wir ja die soziale Marktwirtschaft und Regeln, die gegen Ausbeutung und Korruption schützen (sollen).
Doch die populistischen und nationalistischen Parteien und Bewegungen zeigen, dass die Unzufriedenheit auch in der EU wächst. Gleichzeitig gehen die alten Mehrheiten verloren, immer mehr Regierungen wackeln.
Dreißig Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer spürt auch Europa den “Wind of change” – leider findet er keinen positiven Ausdruck…
Siehe auch “Das europäische Vakuum: Regierungskrise überall” und “Juncker will nicht neoliberal sein”
Holly01
23. November 2019 @ 22:16
@ Alexander:
Die nennen das Vorsorge für die Zukunft. Nachdem seit Schmidt alle die Rentenkasse erst geplündert haben und alle Berufsgruppen mit höherem Durchschnittseinkommen aus der Solidargemeinschaft entlassen wurden, fällt den Herrschaften tatsächlich auf das Geld fehlt.
Das führt dann zur Nachhaltigkeit.
Kann ja wohl nicht sein, das da jemand daher kommt und das Rad zurück drehen will.
Ne ne, da muss man die Ausgaben und die Rechtsansprüche kürzen.
Weil diese Kürzungen bei der Masse bereits zum Status „Altersarmut“ mit Grundsicherung geführt hat, muss man den alten bekannten Plan „B“ aktivieren.
Ein Budget einführen. Allgemeines Motto:
Der persönliche Anspruch ist nicht betroffen, aber die Gesamtausgaben dürfen nicht überschritten werden.
Das ist der einzige trickle down effect der wirklich funktioniert.
Man packt die Ansprüche in einen Rahmen und dann holzt man so lange in der Sache herum, bis man den Rahmen einhält.
Da kann man bestimmt irgendwo so lange sparen, bis so viele falsche Bescheide raus gehen und Zahlungstermine verschoben werden, bis das passt und dann wird der Rahmen systematisch gesenkt.
Das ist aber Alles zu unser Aller Besten, das ist ja für die folgenden Generationen, damit die nicht überfordert werden. *zwinker, zwinker*
vlg
Alexander
22. November 2019 @ 23:31
@ebo:
Zu der Frage, was noch kommen könnte: Vor etwa einem halben Jahr wurde in einem Artikel der Jungen Welt, der leider mittlerweile überwiegend hinter einer Bezahlschranke verschwunden ist, über ein Gutachten berichtet, das der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts Hans-Jürgen Papier für die INSM verfasst hat:
https://www.jungewelt.de/loginFailed.php?ref=/artikel/355318.insm-meldet-sich-zur%C3%BCck-neoliberalismus-ins-grundgesetz.html
„Neoliberalismus ins Grundgesetz“
„Marktradikale wollen »Nachhaltigkeitsgebot« in Verfassung schreiben. Sozialpolitik soll dem Einfluss demokratischer Mehrheiten entzogen werden“
„Am Mittwoch stellte Papier in Berlin ein Gutachten über »Nachhaltigkeit als Verfassungsprinzip« vor, das er im Auftrag der marktradikalen, von der Metall- und Elektroindustrie finanzierten »Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft« (INSM) verfasst hat. Papier hat »gewisse Reformbedarfe« beim Grundgesetz entdeckt. Eines der zentralen Probleme sei, dass die »parlamentarische Demokratie jetzigen Zuschnitts fast zwangsläufig zu einer einseitigen Ausrichtung auf die Interessen und Bedürfnisse der Wählerschaft der Gegenwart führt«. Menschen, die nach den im Sozialkundeunterricht vermittelten Einsichten urteilen, mögen hier einwenden, dass das doch gerade der Witz der vom Grundgesetz gestifteten Demokratie sei. Papier winkt hier ab und führt die Argumentationsfigur der »Belange künftiger Generationen« ein.“
Der Autor des Artikels prophezeit:
„Die Frage ist nicht, ob, sondern wann die erste im Bundestag vertretene Partei mit der Forderung einer in diesem Sinne »nachhaltigen« Grundgesetzänderung in Erscheinung tritt. “
Und nun meldet AFP:
„Die CDU hat ihr Bekenntnis zur Schuldenbremse und zur „schwarzen Null“ bekräftigt. In dem am Freitagabend vom Parteitag in Leipzig beschlossenen Leitantrag zur sozialen Marktwirtschaft heißt es zudem, „wir bekennen uns zum Vertrag von Maastricht, zum EU-Stabilitäts- und Wachstumspakt“. Die Nachhaltigkeit soll zum Staatsziel erklärt werden.“
https://www.zeit.de/news/2019-11/22/cdu-macht-sich-fuer-schuldenbremse-und-schwarze-null-stark
Das komplette Gutachten findet man hier:
https://www.insm.de/fileadmin/user_upload/kampagnen/zukunft_der_sozialen_marktwirtschaft/Generationengerechtigkeit_ins_Grundgesetz__GiG_/Gutachten_Papier/INSM-Gutachten_Nachhaltigkeit_als_Verfassungsprinzip__final.pdf
Sieht ganz so aus, als wären die neoliberalen Ideologen noch längst nicht fertig?
Peter Nemschak
18. November 2019 @ 20:59
@Holly01 Mit der Gesellschaft, von der Sie träumen, hätten Sie keine Freude.
Holly01
18. November 2019 @ 09:54
Es geht nicht um das Label. Was da vorne dran steht interessiert nur die Presse, was drin ist das zählt.
Der hier steht vor einem Proll Publikum und sagt denen ganz klar was das inhaltlich meint (die johlen nur, weil die das nicht verstehen):
” https://www.Republikanismusyoutube.com/watch?v=mhqKn5pL3HM ”
Die Quinte lautet: Die Elite darf sich niemals von dem Pöbel limitieren oder gar lenken lassen.
Wie das Vehikel heißt, mit dem die Elite ihre Position ausbaut, ist völlig egal.
(sry EBO, ich weiß Video, aber der erklärt das eben viel besser, als ich das je könnte)
vlg
Alexander
17. November 2019 @ 22:26
@zykliker: 🙂
@zykliker, kwasir, und überhaupt!:
“Die Idee, die die Welt verschlingt”
“Neoliberalismus Er ist die herrschende Ideologie unserer Zeit – eine, die den Gott des Marktes verehrt und uns das nimmt, was uns menschlich macht”
“Dass Hayek als Ahnherr des Neoliberalismus gilt – einer Denkschule, die alles auf die Wirtschaft reduziert – ist angesichts der Tatsache, dass er ein solch mittelmäßiger Ökonom war, ein wenig paradox.”
“Später räumte er selbst ein, er würde sich wünschen, die Arbeiten, in denen er Keynes kritisiert hatte, würden vergessen werden.”
https://www.freitag.de/autoren/the-guardian/die-idee-die-die-welt-verschlang
kwasir
17. November 2019 @ 19:50
Eine Dimension,die m.E. in der Debatte etwas zu kurz kommt, gerade was den (zumindest versuchten) roll-back des Neoliberalismus in Südamerika angeht, ist die ganz und gar ‘unheilige’ Allianz neuer “Ideologen” jenseits des rechts und links – Schemas, d.h. den Evangelikalen, mit neoliberalen nationalen Protagonisten die auf neokolonialen Verhaltensmustern aufbauen und das Rad der Geschichte wo immer möglich, zurückdrehen möchten. Da werden aus Kabinettssitzungen fast Bibelkreise und politische Entscheidungen unter den Schutz ‘göttlichen Gebots’ gestellt, somit mit demokratisch-“weltlichen'” Mitteln unangreifbar gemacht. Wie weit deren politische Einflussnahme reicht, ist ja bekannt (erfolgreiches impeachment : US Vizepräsident Mitglied d. grace evangelical church/prosperity gospel : gottgegebene(r) Armut/Reichtum)
Die von Stiglitz (s. Zitat aus ipg Artikel) beklagte Intoleranz und Unwissenschaftlichkeit trifft die Gefahrenlage ziemlich genau. Seinen Aufruf verstehe ich auch als eine Initiative zu einer neuen “Aufklärung” gegen den militanten evangelikalen Neoliberalismus.
Stiglitz:
“Wenn es die Finanzkrise von 2008 nicht geschafft hat, uns zu zeigen, dass beschränkungsfreie Märkte nicht funktionieren, sollte es die Klimakrise mit Sicherheit tun: Der Neoliberalismus wird unserer Zivilisation im wahrsten Sinne des Wortes ein Ende bereiten. Zugleich jedoch ist klar, dass jene Demagogen, die wollen, dass wir uns von Wissenschaft und Toleranz abwenden, die Lage nur verschlimmern werden.
Die einzige Möglichkeit, unseren Planeten und unsere Zivilisation zu retten, besteht in der Wiedergeburt der Geschichte. Wir müssen die Aufklärung neu beleben und uns wieder dazu bekennen, ihre Werte der Freiheit, der Demokratie und des Respekts für das Wissen zu ehren.