Eine fiskalpolitische Bombe, Streit um Chatkontrolle – und betreute Demokratie
Die Watchlist EUropa vom 20. Juni 2024 – Heute mit der Rückkehr der Defizitverfahren, der Aushöhlung der Privatsphäre und einer Bevormundung des Europaparlaments
Es geht wieder los: Nach jahrelanger Pause wegen der Corona-Pandemie will die EU-Kommission erneut gegen „Schuldensünder“ und hohe Budgetdefizite vorgehen. Frankreich, Italien und fünf weitere EU-Länder müssen mit der Eröffnung eines sogenannten Defizitverfahrens rechnen, teilte die Brüsseler Behörde mit.
Zur Begründung verwies die Kommission auf die neuen Schuldenregeln, die im April in Kraft getreten sind. Sie sehen enge Grenzen für die Staatsverschuldung und das laufende Budgetdefizit vor. Als Nächstes müssen noch die Finanzminister zustimmen, das ist im Juli geplant. Die Defizitverfahren können zu hohen Geldbußen führen.
Für Frankreich kommt der blaue Brief aus Brüssel zur Unzeit. Präsident Emmanuel Macron hat nach Verlusten bei der Europawahl für den 30. Juni Neuwahlen angesetzt. Umfragen zufolge liegen die Nationalisten von Marine Le Pen vorn. Ihr Wahlsieg könnte Frankreich in eine Finanzkrise stürzen, Spekulanten wetten bereits eifrig gegen Paris.
Auch in Italien und Belgien schlug die Nachricht wie eine Bombe ein. In Belgien haben gerade die Verhandlungen für eine neue Regierung unter Führung des flämischen Nationalisten Bart de Wever begonnen. Harte Sparauflagen der EU gefährden die Koalitionsgespräche. Und in Italien lehnt man neue Kürzungsprogramme aus Brüssel ohnehin ab.
Das Timing ist skandalös
___STEADY_PAYWALL___
Dass die EU-Kommission damit jetzt kommt – zehn Tage nach der Europawahl – ist ein Skandal. Schließlich ist sie selbst ein Auslaufmodell. Kommissionschefin von der Leyen ist noch nicht im Amt bestätigt, ihre Wirtschaftskommissare sind nur noch Bürokraten auf Abruf. Eine demokratische Legitimation haben sie nicht.
Problematisch ist auch, dass die EU in die demokratischen Prozesse in Frankreich und Belgien eingreift. Egal, wer dort gewählt wird – er muß im September einen Budgetentwurf vorlegen, der den Vorgaben aus Brüssel entspricht. So bremst man gefährliche Rechtspopulisten, freut sich mancher in Brüssel und Berlin.
Doch das stimmt nicht – die Austeritätspolitik trifft alle Parteien. Nach Berechnungen der Denkfabrik Bruegel müsste Belgien staatliche Ausgaben im Wert von drei Prozent der Wirtschaftsleistung kürzen, Frankreich 3,7 und Italien sogar 4,3 Prozent.
Dies dürfte zu sozialen und wirtschaftlichen Verwerfungen führen – egal, wer regiert…
News & Updates
- Kommt die umstrittene Chatkontrolle doch noch? Trotz massiver Proteste will der belgische EU-Vorsitz die umstrittene Chatkontrolle doch noch einführen. Am Donnerstag ist eine Probe-Abstimmung angesetzt, Deutschland will angeblich Nein sagen. “Die Bundesregierung wird der Chatkontrolle nicht zustimmen”, sagte Bundesinnenminister Buschmann (FDP). Die Messenger-Anbieter Threema und Signal haben bereits damit gedroht, sich bei einer Einführung aus Europa zurückzuziehen.
- Kallas muß um Wechsel nach Brüssel bangen. Wird die als Russland-Hasserin bekannte estnische Regierungschefin Kallas zur nächsten EU-Außenbeauftragten? Deutsche Medien beklatschen ihren Wechsel nach Brüssel – doch der ist nicht sicher. Denn die Liberalen haben die Europawahl verloren – und die rechtspopulistische EKR bringt nach letzten Meldungen mehr EU-Abgeordnete an den Start. – Mehr im Blog
- Ukraine kündigt Sicherheitsdeal mit der EU an. Nach einer Reihe von Sicherheitsabkommen mit westlichen Verbündeten will die Ukraine bald auch mit der EU eine solche Vereinbarung schließen. “Die Verhandlungsteams der Ukraine und der EU haben den Text des Sicherheitsabkommens fertiggestellt und sind übereingekommen, es in naher Zukunft zu unterzeichnen“, hieß es in Kiew. Der Deal ist längst fertig, war aber mit Rücksicht auf die Europawahl aufgeschoben worden. – Mehr hier
Das Letzte
Metsolas “betreute Demokratie”. Die Präsidentin des Europaparlaments hat eine merkwürdige Auffassung von Demokratie. Beim gescheiterten EU-Gipfel am Montag hat sie es nicht nur zugelassen, dass die Staats- und Regierungschefs über ihre nächste Amtszeit feilschen – was normalerweise Sache der neu gewählten Abgeordneten ist. Die konservative EVP-Politikerin hat zudem gelobt, sich um eine Mehrheit für Kommissionschefin von der Leyen (ebenfalls EVP) zu bemühen, die für eine zweite Amtszeit noch vom Parlament bestätigt werden muß. Zu diesem Zweck soll es sogar eine Sitzung der Fraktionschefs geben, an der Ratspräsident Michel teilnimmt! Das nennt man wohl betreute Demokratie. Aber für Metsola hat es sich ausgezahlt: Die EVP hat sie erewartungsgemäß für eine neue Amtszeit nominiert…
Mehr Newsletter hier
european
20. Juni 2024 @ 12:14
Die Schuldenbremse ist eine Politik der halben Sachen. Um es kurz zu machen: Wer Schulden verdammt, muss Sparen verbieten. In unserem Geldkreislauf ist naemlich alles ein Kredit. Das gute alte Sparbuch ist nichts weiter als Bankschulden.
Deutschland verschuldet seit langem das Ausland zur Loesung seiner Probleme. Es ist nunmal eine Tatsache, dass der Geldkreislauf immer mit einem Kredit beginnt. Man kann in unserem Geldsystem nicht zuerst sparen. Das ist keine Frage des Wollens, sondern es ist technisch nicht moeglich. Der Sparvorgang liegt immer am Ende des Geldkreislaufes. Aktuell wurden Investitionen des Auslandes in Milliardenhoehe aus Deutschland abgezogen und das Ende der Fahnenstange ist m.E. noch nicht erreicht. Deutschland zeigt ja im Moment, wie toll es ist in einer Krise alles zusammenzustreichen, was geht. Die Wirtschaft brummt, wie wir sehen. Strassen, Bruecken, Schienen setzen sich von allein instand und der soziale Wohnungsbau erreicht ein atemberaubendes Tempo 😉
Und weil das so toll ist, brummen wir das auch noch den anderen auf, die bisher die Schulden in der EU gemacht haben, denn Exportueberschuesse bedeuten, dass man den anderen mehr verkauft, als man ihnen abkauft. Rein praktisch gesprochen. Heisst also, den anderen Staaten fehlen die Steuereinnahmen um die Defizite auszugleichen. Wenn aber Staaten sparen, senken sie ihre Einnahmen damit immer weiter ab. Das ist der grosse Unterschied zum privaten Sparen. Den Binnenmarkt haben wir durch den festen Glauben an den Erfolg des Nichtsverdienermodells eigenhaendig zerstoert, wie unlaengst Draghi kurz und knapp festgestellt hat. Aber das macht auch nichts. Die vielen Nichtsverdiener zuecken dann einfach ihre Kreditkarte und kaufen davon deutsche Autos.
Die Preisfrage also lautet: Wer macht sie, die Schulden, damit unser Geldkreislauf funktioniert? Freiwillige vor! 😉
exKK
20. Juni 2024 @ 12:42
Ja, seltsam nicht, dass die innerEUropäischen Steuerparadiese wie Luxemburg oder die Niederlande fiskalisch auf Kosten anderer solide dastsehen…
european
20. Juni 2024 @ 13:14
Nicht nur die beiden. Irland und Malta sind auch erklaerte Steuerparadiese und Deutschland braucht andere Laender, damit die Schuldenbremse funktioniert.
Es wird einfach nicht ehrlich debattiert und das wird zunehmend zum grossen Problem. In die Krise hineinsparen staerkt immer die extremen Raender. Wer wuesste das besser als wir. Aber Christian Lindner “glaubt” solchen Studien nicht, wie er kuerzlich in einem Interview sagte. Von den Auswirkungen der Brueningschen Spargesetze scheint ihm nichts bekannt zu sein. Er hat ein bestimmtes Glaubensmodell bezueglich der Funktionsweise von Wirtschaft und Geld und hat sich dazu einen Berater geholt, der ihn in seinem Glauben bestaerkt.
Oekonomie hat sehr viele Gemeinsamkeiten mit Religionen. 😉
Arthur Dent
20. Juni 2024 @ 10:18
Hab ich das so richtig verstanden, Brief- und Postgeheimnis war gestern. Die EU will eine gesetzlich vorgeschriebene Spionage-Schnittstelle, um WhatsApp in Echtzeit mitlesen zu können?
Und “no bail out” war auch gestern. Wenn es um die Ukraine geht, wäre Rot-Grün in Deutschland nichts zu teuer – egal, wieviele Opfer Rentner und Arbeitnehmer noch erbringen müssten. Die Schuldenbremse, die ursprünglich eingeführt wurde um das eigene Volk zu disziplinieren, die stört jetzt natürlich nur.
ebo
20. Juni 2024 @ 12:19
Die Abstimmung zu dem Thema wurde kurzfristig vertagt. Vom belgischen EU-Ratsvorsitz hieß es, es gebe nicht die nötige Mehrheit für eine Einigung.
Helmut Höft
20. Juni 2024 @ 08:28
Es geht wieder los: Ich finde es beführwortenswert, dass diese …bremsen-Kacke, dieser (willkürliche) Zahlensalat 3/6/60 usw. usf. wieder losgeht! Je eher, desto besser, je eher desto offenbarer dass „Phantasie herrscht über Realität“ nicht geht.
Peter Müller im IV: Das Urteil war absolut richtig [die Schuldenbremse einführen]. Der Grundsatz „Not kennt kein Gebot“ kann in einem Rechtsstaat nicht gelten. Solange die Regelungen so sind, wie sie jetzt sind, müssen sie angewendet werden. Wenn es Notwendigkeiten gibt, sich anders zu verhalten, muss man die Regeln ändern. hier: https://www.thepioneer.de/originals/thepioneer-briefing-business-class-edition/podcasts/wie-koennte-man-die-schuldenbremse-reformieren-peter-mueller – ab 05’37“ am Ende des IV.
Das ist es: Möglicherweise hat Müller hier Recht (ich bin da anderer Meinung: es gibt imho niemals einen Grund, dass sich die Politik die Hände selber bindet und dann trotzdem versucht ihre Aufgaben wahrzunehmen!), womit er aber definitiv Recht hat: Wenn sich Regeln als problematisch (wenn nicht gar kontraproduktiv) herausstellen, muss man sie ändern!