Ein Jahr Ukraine-Krieg: Fragwürdige historische Parallelen
Zum Jahrestag des Ukraine-Kriegs werden viele historische Parallelen gezogen. Die einen reden von 1916, die anderen von 1933 oder 1938. Was lernen wir daraus im Jahr 2023?
Die Schlacht um Bachmut erinnere an das Verdun des Jahres 1916, sagen die einen. Sie ziehen daraus meist die Konsequenz, dass man das sinnlose Töten so schnell wie möglich beenden müsse.
En vogue sind auch die Vergleiche mit 1933. In Russland sei der Faschismus wiederauferstanden, heißt es vor allem in Osteuropa. Die Lehre: Die ganze Welt müsse Putins Regime bekämpfen – bis hin zum Weltkrieg (Eroberung der Krim, Regime change in Moskau…)
Und dann natürlich 1938: Das Münchener Abkommen und der gescheiterte Versuch, Hitler zu beschwichtigen, mahne dazu, kein Appeasement zu betreiben und die Ukraine nicht zu opfern wie einst die Tschechoslowakei.
Was lernen wir daraus im Jahr 2023? Zunächst einmal, dass es viele historische Parallelen gibt und der Krieg um die Ukraine bzw. gegen Russland nicht so einmalig ist, wie es zunächst hieß. Die “Zeitenwende” ist vor allem eine Zeitreise in die dunkle Vergangenheit.
Zum anderen zeigt sich aber auch, dass ein Blick ins Geschichtsbuch nicht viel weiter hilft. 1916 gab es kein Internet, die Menschen wußten verdammt wenig vom Gemetzel in Verdun. Heute wissen alle bescheid – trotzdem wird weiter getötet.
Die Mahnung an 1933 ist sehr ernst zu nehmen. Doch der Faschismus hatte schon damals viele verschiedene Gesichter. Putin ist wohl eher ein Erbe des Stalinismus, und die Ukraine ist – mit seiner Geschichte der Kollaboration – wohl kaum ein Hort des Antifaschismus…
Was 1938 betrifft: Von Appeasement kann heute wohl keine Rede sein. Die größte Weltmacht (USA) und das mächtigste Militärbündnis (Nato) stellen sich Russland entgegen – das beschwört ganz andere Gefahren herauf als damals.
Ich möchte weder ein neues Verdun, noch ein neues München. Und was den Faschismus betrifft, so bin ich der altmodischen Ansicht, dass, wer vom Faschismus redet, vom Kapitalismus nicht schweigen darf. Diese Einsicht gilt auch 2023 noch…
Mehr zum Ukraine-Krieg hier
P.S. Gerne ausgeklammert werden andere historische Parallelen – die Balkan-Kriege, der Irakkrieg oder der Nato-Einsatz in Afghanistan. Auch dieser begann als “Spezialoperation”, dauerte dann aber fast 20 Jahre – und endete mit einem Fiasko für den Westen…
KK
27. Februar 2023 @ 11:54
@ Cornelia Henke:
Jeder einzelne der inzwischen tausenden Drohnenmorde der USA ist ein Verstoß gegen das Völkerrecht und die Menschenrechte. Und dabei leistet die BRD Beihilfe, indem sie Ramstein als Relaisstation zulässt!
european
27. Februar 2023 @ 14:35
Nicht nur das. Es ist gegen jede Rechtsstaatlichkeit, auf die wir doch so stolz sind. Bei jedem einzelnen wurde ein Todesurteil vollstreckt, ohne dass es jemals eine Anklage und ein geordnetes Gerichtsverfahren mit Einspruchsmoeglichkeit gegeben hat. Mal von den furchtbaren Kollateralschaeden abgesehen.
Wenn also unser Bundeskanzler im Zuge des Nordstream-Terroraktes darauf verweist, dass “wir in einem Rechtsstaat leben und nichts beweisen koennen”, dann ist das im Hinblick auf der Beihilfe zum tausendfachen Mord (mWn sind es mind. 3000) durch Drohnen, gelenkt ueber Ramstein und Stuttgart, zynisch und mehr als unglaubwuerdig.
Sören Haber
27. Februar 2023 @ 21:24
“Jeder einzelne der inzwischen tausenden Drohnenmorde der USA ist ein Verstoß gegen das Völkerrecht und die Menschenrechte. ”
Die USA selbst sind ein Verstoß gegen Völker- und Menschenrechte. So von wegen Massakern an und Enteignen der indogenen Primärbevölkerung.
Thomas Damrau
27. Februar 2023 @ 09:05
Historische Analogien werden gerne benutzt, um durch vermeintliche Ähnlichkeit zwischen gestern und heute die eigene Meinung zu stützen.
Wiederholt sich Geschichte wirklich? Manchmal schon – aber wenn, dann meist als Farce, wie Marx festgestellt hat:
– Das alte Stück vom “Iwan, der ganz Europa erobern möchte” wird als “Putin, der in der Ukraine gestoppt werden muss, damit er nicht den Status von 1989 wiederherstellt” neu aufgeführt.
– Die Idee von 1914, man müsse dem Feind eine Lektion erteilen, feiert eine Wiederauferstehung als “Russland muss verlieren lernen” (R. Kiesewetter im DLF https://www.deutschlandfunk.de/ein-jahr-zeitenwende-interview-roderich-kiesewetter-cdu-aussenpolitiker-dlf-5a794d44-100.html ). Krieg als pädagogische Maßnahme.
Ansonsten bin ich skeptisch, ob man aus den genannten historischen Bezügen viel lernen kann:
– Verdun: Ob Bachmut das neue Verdun wird, ist Stand heute schwer abzuschätzen und ist aus meiner Sicht eher zweitrangig. Die eigentliche Frage ist, wann der Ukraine-Krieg zu einem Ende kommt. Dass Kriege nicht zu Ende kommen, ist leider nicht ungewöhnlich: 100-jähriger Krieg, 30-jähriger Krieg, 7-jähriger Krieg, Vietnam-Krieg (20 Jahre), …
– 1933 war die Kapitulation des (Groß-)Bürgertums vor dem unbedingten Machtwillen Hitlers. Putins Weg ins Totalitäre war eher schleichend und in kleinen Schüben.
– 1938: Appeasement wird eingesetzt, um einen Krieg zu vermeiden. Da sehe ich keine Analogie. Durch den Verweis auf 1938 wird höchstens die Frage aufgeworfen, ob die Bereitschaft, zwischen 1990 und 2022 auch russische Interessen zu berücksichtigen, den Krieg 2022 hätte verhindern können.
Wir sollten in der Geschichte eher nach Analogien suchen, in denen mit Furor das (vermeintlich) Gute durchgesetzt werden sollte. Und bei denen sich das Projekt als undurchführbar herausgestellt hat: Vietnam, Afghanistan, Irak, …
Cornelia Henke
27. Februar 2023 @ 08:47
Wären wir schon im 3. Weltkrieg, wenn nicht alle beteiligten Nationen festgestellt hätten, dass es mit der militärischen Aufrüstung noch nicht reicht? (Also verschoben auf später?)
Wer von Frieden spricht ist Häme und Verunglimpfung ausgesetzt – Zielgruppe die Ostdeutsche Nachkriegsgeneration!!!!!
Wir sind keine Russlandfreunde oder Putin Versteher, aber wir lassen uns nicht von dummer Propaganda, schulterklopfend in den 3. Weltkrieg quatschen! Angriffskriege gibt es und gab es genug. Es lohnt sich in die amerikanische Geschichte zu schauen!
Die ständige Erinnerung an Butscha möchte ich ergänzen:
Die Liste ist endlos – ich kann nur einige nennen:
Das Massaker von Sabra und Schatila (Bis heute keine Aufarbeitung der Geschehnisse!), Katyn, Srebrenica , My Lai, Aleppo. Massaker und Genozide sind nicht auf bestimmte Völker oder Weltanschauungen begrenzt! Jetzt in diesem Moment, geschehen in anderen Ländern die gleichen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und es interessiert KEINEN! Sie alle haben unter Beweis gestellt, dass sie töten, foltern und Vernichten können – aber wer kann die aktuellen Probleme der Zeit lösen? Leider habe ich noch keinen alternativ Planeten in der habitablen Zone gefunden.
C. Henke
Alexander
27. Februar 2023 @ 09:32
@Cornelia Henke:
“Das Massaker von …”
Filmtipp: “The Act of Killing”
https://www.imdb.com/title/tt2375605/
Und über einen der Hauptverantwortlichen heißt es (sogar) bei Wikipedia:
“Insbesondere zur Bundesrepublik Deutschland baute Suharto gute Beziehungen auf. Mit dem damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl, der Indonesien viermal während seiner Amtszeit besuchte, entstand eine lebenslange Freundschaft.”
https://de.wikipedia.org/wiki/Suharto
So geht Wertewesten!
KK
27. Februar 2023 @ 00:10
@ european:
„Die Ansicht über den westlichen Imperialismus, die das chinesische Außenministerium sehr selbstbewusst auf seinen Seiten veröffentlicht hat, wird von den 140 Staaten, die nicht mitmachen, aus gutem Grund geteilt. Nicht Russland wird isoliert bzw. ruiniert, wir Europäer werden es, und die USA sind auch hier Drahtzieher.“
Auch diese Analyse der Abstimmung der UN-Vollversammlung lässt tief blicken: Zwar haben 141 Staaten Russland verurteilt – aber neben 7 Gegenstimmen und 32 Enthaltungen waren 13 Staaten erst gar nicht anwesen – wohl in erster Linie, um Repressionen der USA zu entgehen (oder wie ist sonst zu verstehen, dass zB auch Grenada der Abstimmung ferngeblieben ist – wer sich nicht mehr richtig an die US-Invasion 1983 erinnert, möge sei Gedächtnis auffrischen).
Und allein zwei der sich enthaltenen Staaten repräsentieren mit jeweils rund 1,4 Millarden Einwohnern nahezu 3 Milliarden Menschen, während Zwergstaaten wie Liechtenstein, Andorra, San Marino, Monaco usw. mit der Einwohnerzahl einer mittleren Kleinstadt mit gleichem Gewicht in der Waagschale liegen wie China oder Indien.
Hier etwas ausführlicher:
https://globalbridge.ch/darum-sind-uno-abstimmungen-wertlos-und-manchmal-sogar-gefaehrlich/
european
26. Februar 2023 @ 19:37
“1916 gab es kein Internet, die Menschen wußten verdammt wenig vom Gemetzel in Verdun. Heute wissen alle bescheid – trotzdem wird weiter getötet.”
Manchmal fürchte ich, dass das Internet aktuell noch eher als Brandbeschleuniger wirkt, als dass es als Informationquelle genutzt wird. Wünschenswert wäre es anders herum. Wenn ich mir die Kommentare unter Artikeln ansehe oder auch wie die Wogen zu Beginn des Krieges auf Twitter hochgegangen sind, dann bin ich nicht sicher, ob Menschen tatsächlich lernwillig oder lernfähig sind. Die würden heute wieder “Ja” brüllen. Ohne zu zögern. An wirklichem Austausch und gemeinsamem Dazulernen sind nur sehr wenige wirklich interessiert. Die Überlegung, ob die Gegenseite vielleicht irgendwo Recht haben könnte, ist nur selten vorzufinden und wenn, dann laufen diejenigen mit diesem Denkansatz Gefahr, gesperrt zu werden, verunglimpft (Gabriele Krone-Schmalz oder auch jetzt Seymour Hersh), oder sogar entlassen (siehe Guerot). Diskredition als Waffe gegen unliebsame Meinungen.
Wie auch aus dem sehr traurigen Brief von Antje Vollmer zu entnehmen ist, siegt politisch und gesellschaftlich aktuell nicht in Europa die Intelligenz. Von Schwarmintelligenz ganz zu schweigen. Unser Bundeskanzler reist gerade nach Indien. Er wird mit dem gleichen Nein wieder zurückkommen, wie die Euco-Präsidentin. Die Ansicht über den westlichen Imperialismus, die das chinesische Außenministerium sehr selbstbewusst auf seinen Seiten veröffentlicht hat, wird von den 140 Staaten, die nicht mitmachen, aus gutem Grund geteilt. Nicht Russland wird isoliert bzw. ruiniert, wir Europäer werden es, und die USA sind auch hier Drahtzieher.
Dazu die aktuelle Analyse von Duran: https://youtu.be/5lBSOAnQrhE
Es fällt schwer, dieser Analyse nicht zuzustimmen.
Glenn Greenwald hat vor ein paar Tagen einen Videoclip hochgeladen, in dem er über das “excitement of war” spricht, eben jenes Glänzen in den Augen, endlich wieder Krieg zu führen und das eben diese excitement vorzugsweise in den Augen derjenigen zu finden ist, die weder selber in eine Schlacht ziehen noch ihre Kinder dorthin gehen lassen. Ich glaube, dass das aktuell häufiger zu sehen ist, als uns das lieb ist. Wieviele der “Solidarischen” sind einfach nur vom Krieg besessen und froh, dass sie unter der Flagge “Solidarität” segeln, und somit nicht auffallen.
Ich hoffe auf diee neue Friedensbewegung und darauf, dass endlich der Verstand wieder einzieht.
Hekla
26. Februar 2023 @ 19:20
Ihre eingangs gestellte Frage (“Was lernen wir daraus….”) bleibt leider unbeantwortet. Eine der möglichen Antworten könnte sein: nichts, gar nichts haben wir gelernt. Ich hielt es z. B. für ein universelles Erkenntnis, dass kein “höheres Ziel” oder “gute Sache” es jemals wert sein darf, dafür Unschuldige in den Tod zu schicken; selbst ein völkerrechtliches Unrecht darf das nicht wert sein, denn das Wertvollste, Wichtigste ist das Leben.
Ich habe mich geirrt und bitter getäuscht. Es gibt keine universellen Erkenntnisse aus den vorangegangenen Kriegen, der Wert des menschlichen Lebens scheint selbst im so fortschrittlichen Europa immer noch genauso niedrig zu sein, wie schon immer, wie seit jeher.