Drei Standards beim EU-Gipfel, Angst vor Delta-Variante – und “Querfront” beim Klima

Die Watchlist EUropa vom 25. Juni 2021 –

Drei Themen haben den letzten EU-Gipfel mit Kanzlerin Merkel beherrscht: Ungarn, Russland und die Türkei. An alle drei Länder legen die 27 andere Maßstäbe an. Ungarn wird wegen der Minderheiten-Rechte bedroht, Russland wegen der Ukraine bestraft – und die Türkei wegen der Flüchtlinge belohnt. Das nennt man wohl Geopolitik: Was zählt, sind die Interessen, nicht die Werte.

Beginnen wir mit Ungarn: 16 Staats- und Regierungschefs haben sich in einem gemeinsamen Brief hinter die EU-Kommission gestellt und erklärt, „anlässlich der Feier des International Lesbian Gay Bisexual and Transgender Pride Day am 28. Juni“ bekenne man sich zum Schutz der Persönlichkeit „einer jeder Bürgerin und eines jedes Bürgers, einschließlich ihrer sexuellen Orientierung und Geschlechtsidentität“.

So politisch korrekt und sexuell aufgeschlossen hat sich Merkel noch nie präsentiert – schon gar nicht im Kreise der EU-Granden, die sich sonst nur mit hoher Diplomatie befassen und staubtrockene Sprache pflegen. Fast wirkt es, als wolle die CDU-Politikerin ihrer EU-Bilanz zum Schluß noch einen bunten Regenbogen aufsetzen.

Doch wie ernst ist dieses späte Bekennerschreiben für sexuelle Vielfalt wirklich gemeint? Was können sich die LGBT und andere Minderheiten in Ungarn von dem Appell kaufen – angesichts der Tatsache, dass Merkel bis zuletzt ihre schützende Hand über den rechtslastigen Regierungschef Viktor Orban gehalten hat?

Neue Extrawurst für die LGBT

___STEADY_PAYWALL___

Und seit wann ist die Feier der LGBT für die EU ein relevantes Datum? Ist die Geschlechtsidentität neuerdings wichtiger als – sagen wir – die Herkunft? Noch nie hat sich ein EU-Gipfel zu einem Feiertag von Sinti und Roma oder zu den Rechten der russischen Minderheit im Baltikum bekannt. Hier wird offenbar ein neuer Standard geschaffen.

Allerdings tragen ihn nicht alle EU-Staaten mit – Österreich hat den Brief nicht unterschrieben (wurde beim Gipfel nachgeholt), und der kommende EU-Vorsitz in Slowenien auch nicht. Das könnte noch heikel werden, zumal selbst das Europaparlament und der Bundestag nicht so liberal sind, wie sie sich derzeit gerne geben.

Ein neuer Standard wird auch für Russland geschaffen. Während sich US-Präsident Biden mitten in Europa mit dem russischen Zaren Putin treffen kann und dafür gefeiert wird, verlangen einige EU-Staaten, dass ein Gipfel mit Putin an Vorbedingungen geknüpft werden müsse. Mißtrauen sie ihrer eigenen Führung? Darf die EU nicht, was die USA ganz selbstverständlich tun?

Wirtschaftssanktionen gegen Russland

Offenbar. Jedenfalls ist ein deutsch-französischer Vorstoß für einen Putin-Gipfel gescheitert. Beschlossen wurde nur die Erarbeitung eines Plans für Strafmaßnahmen, der auch Wirtschaftssanktionen umfasst. Es gebe “die Notwendigkeit einer entschlossenen und koordinierten Reaktion der EU und ihrer Mitgliedstaaten auf jede weitere böswillige, rechtswidrige und disruptive Aktivität Russlands“, heißt es in der Gipfelerklärung.

Wieder anders geht man mit der Türkei um. Obwohl diese seit Jahrzehnten die Hälfte des EU-Mitglieds Zypern besetzt hält, in Nordsyrien einmarschiert und die Menschenrechte mit Füssen tritt (einschließlich der LGBT), will die EU den Alleinherrscher Erdogan mit neuen Milliardenhilfen belohnen und den Handel über ein neues Zollabkommen ausweiten.

Bisher war immer ‘mal von Doppelstandards die Rede. Nun haben wir Standards à la carte – je nachdem, wie es gerade in die politische Agenda passt. Zur Einheit der EU und zu ihrer Glaubwürdigkeit wird es leider nicht beitragen. Zum Ende der Amtszeit von Merkel ist die Union widersprüchlicher und gespaltener denn je…

Siehe auch Merkel hinterlässt eine tief gespaltene EU, an der die Bürger (ver-)zweifeln

Watchlist

Droht eine neue Coronakrise? Wegen einer besorgniserregenden Ausbreitung der Delta-Variante und einer Zunahme der Infektionsfälle hat die Regierung Portugals die für Montag vorgesehenen Lockerungen der Corona-Einschränkungen für weite Teile des Landes ausgesetzt. “Wir befinden uns in einer kritischen Phase”, erklärte Präsidentschafts-Ministerin Mariana Vieira da Silva. Auch der EU-Gipfel macht sich Sorgen:  Aus Furcht vor Ausbreitung der Delta-Variante wollen die EU-Staaten ihre Grenzen für Reisende aus Drittstaaten nur vorsichtig öffnen. Für US-Amerikaner hat die EU-Kommission aber schon grünes Licht gegeben: sie sind willkommen – auch ohne Impfung! – Mehr hier

Was fehlt

Die neue “Querfront” beim EU-Klimagesetz. Grüne, Linke und rechte Parteien stimmten mit Nein. Die geplanten Emissionsminderungen seien “viel zu niedrig”, erklärte die Linken-Abgeordnete Cornelia Ernst. Ähnlich äußerten sich Grünen-Politiker. Die AfD-Abgeordnete Sylvia Limmer hingegen sprach von einer “politischen These von CO2 als dem alleinigem Klimatreiber” und der Vernichtung von Arbeitsplätzen durch die Klimapolitik. Das Gesetz schreibt die Klimaneutralität bis 2050 fest und soll die Emissionen bis 2030 um mindestens 55 Prozent senken. Dabei darf die Aufnahme von Treibhausgasen durch “Senken “wie Wälder mitgezählt werden, was Kritiker als Rechentrick werten. – Mehr hier