Digitalpolitik: Wird mit Vestager alles gut?

Ursula von der Leyen will Margrethe Vestager zur „Superkommissarin“ für Wettbewerb und Digitalisierung machen. Das weckt Hoffnung auf eine ehrgeizige Digitalpolitik. Aber es gibt auch Schwachstellen. Ein Gastbeitrag.

Von Tiemo Wölken*

Die neue Europäische Kommission nimmt Form an. Der Nominierungsprozess sorgte bereits für einige Überraschungen – allen voran die Nominierung der neuen Kommissionspräsidentin. Seit dem 10. September sind nun auch die Zuständigkeiten der einzelnen Kommissarinnen und Kommissare bekannt. Das Europäische Parlament bereitet sich auf die Anhörung der Kandidatinnen und Kandidaten vor, und das politische Brüssel beginnt sich ein Bild zu machen, wie die nächsten fünf Jahre unter der Kommission Von der Leyen aussehen könnten.

Die Aufteilung der Ressorts gibt Hinweise auf die Prioritäten der nächsten Kommission. Die Berufung von Margrethe Vestager als „Superkommissarin“ für Wettbewerb und Digitalisierung etwa gibt Anlass zur Hoffnung, dass das Thema Digitalisierung auf der Prioritätenliste der neuen Kommission weit oben steht.

Einige Schwachstellen beim Ressortzuschnitt

Bei genauem Hinsehen offenbart die Ressortaufteilung der neuen Kommission aber auch einige Schwachstellen. So soll Vestager, obwohl sie laut ihrer offiziellen Ressortbeschreibung „Europa fit für das digitale Zeitalter“ machen soll, nicht für die Generaldirektion Kommunikationsnetze, Inhalte und Technologien (DG CNECT) zuständig sein, sondern nur für die Generaldirektion Wettbewerb.

DG CNECT hingegen soll der Französin Sylvie Goulard zuarbeiten, der neuen Binnenmarktskommissarin. Und bereits das bietet Grund zur Sorge, dass die Digitalthemen unter Goulard aus einer strikt wirtschaftspolitischen Sicht behandelt werden, wo doch ein ganzheitlicher Ansatz wünschenswert wäre, der auch auf die Wahrung digitaler Grundrechte achtet, wie etwa auf den Datenschutz – für den aber Justizkommissar Didier Reynders zuständig sein wird. 

Für Innovation wird Mariya Gabriel zuständig sein, um den Themenkomplex Desinformation im Netz wird sich die Kommissarin für Werte und Transparenz Véra Jourová kümmern, und Maroš Šefčovič, Vizepräsident für interinstitutionelle Beziehungen und Voraussicht, wird die Aufgabe haben, „globale Megatrends“ zu analysieren und Strategien darauf zu entwickeln. Man erkennt schnell, dass sich hinter dem Anschein einer starken Digitalkommissarin eine diffuse Aufteilung von Zuständigkeiten verschiedener Kommissare verbirgt, und die Sorge ist berechtigt, dass zu viele Köche den Brei verderben.

Auch bei Vestager gibt es Konfliktpotential

Selbst Vestagers eigene Ressortzuschneidung birgt Konfliktpotential. Als Wettbewerbskommissarin hat sie sich bereits in der vergangenen Legislaturperiode einen Namen als diejenige verdient, die den IT-Riesen aus Silicon Valley den Kampf gegen Monopole und Steuervermeidung erklärt hat.

Als für die Koordinierung der Digitalthemen zuständige Vizepräsidentin wird sie jedoch auch ein Auge auf die Digitalunternehmen in Europa halten müssen, die sich von der Binnenmarktskommissarin Goulard einen industriepolitischen Ansatz erhoffen, damit sich europäische Digitalunternehmen auch auf dem globalen Markt behaupten können. Als im Februar die Bahnhersteller Siemens und Alstom aus demselben Grund eine Fusion anstrebten, sah sich Vestager gezwungen, dem Vorhaben aus wettbewerbsrechtlichen Gründen den Riegel vorzuschieben.

Dabei stellt sich gerade auch im digitalen Bereich die Frage, ob wir europäische Champions brauchen. Sowohl Silicon Valley als auch China treiben die Entwicklung künstlicher Intelligenz maßgeblich voran und investieren Milliardensummen. Aber gerade künstliche Intelligenz ist ein Paradebeispiel dafür, wie neue Technologien unser Leben beeinflussen.

Europas Anspruch

Europas Anspruch muss sein, dass die neuen Technologien, die in der unmittelbaren Zukunft vermehrt zum Einsatz kommen werden, nach unseren Vorstellungen und unter Einhaltung unserer Standards in Bezug auf Grund- und BürgerInnenrechte, Verbraucherschutz und Transparenz geschaffen werden – das ist unser Alleinstellungsmerkmal im Vergleich zum kapitalistischen Modell Silicon Valley und dem von oben gesteuerten Modell China. Dafür hat Ursula von der Leyen bereits innerhalb der ersten hundert Tage im Amt der neuen Kommission Maßnahmen zu den menschlichen und ethischen Auswirkungen künstlicher Intelligenz angekündigt. 

Ethische Standards für künstliche Intelligenz sind unabdingbar. Die Europäische Union ist nach wie vor der wichtigste Verbrauchermarkt der Welt und kann somit zwar Standards setzen, das bedeutet jedoch nicht, dass wir die Entwicklung von künstlicher Intelligenz nicht auch in Europa vorantreiben sollten. Dafür sind nicht nur ethische Standards nötig, sondern insbesondere die Klärung von Haftungsfragen, etwa falls durch Algorithmen und Entscheidungen von künstlicher Intelligenz Schaden entsteht.

Dazu steht in den politischen Leitlinien der neuen Kommissionspräsidentin jedoch zunächst noch nichts. Aber genau auf diese Frage muss die Kommission Antworten liefern können, damit Rechtssicherheit herrscht. Andernfalls kann es passieren, dass die europäische KI-Szene überschaubar bleibt.

Haftung von Plattformen

Da wo die Kommission plant, Haftungsfragen zu klären, ist bei der allgemeinen Haftbarkeit von Plattformen im Rahmen des Digital Services Act, zu dem im Sommer erste Pläne der DG CNECT bekannt geworden sind. Es soll ein Rundumpaket werden, das nicht nur die bestehenden Regeln zu E-Commerce ersetzt, sondern auch europaweit die Haftbarkeit von Plattformen für Inhalte festlegt, die auf ihnen veröffentlicht werden – insbesondere mit Bezug auf Hassrede, Desinformation und gezielter Manipulation von Wählergruppen durch individualisierte Werbung.

Deutschland und Frankreich haben beispielsweise hierzu bereits nationale Gesetze erlassen – eine europäische Harmonisierung ist aber sinnvoll. Risiken bestehen jedoch bei der Frage, wie Plattformen mit ihrer Haftung umgehen sollen: Sollten sie angehalten werden, proaktiv verbotene Inhalte zu löschen, droht uns eine neue Uploadfilter-Debatte in viel größerem Ausmaß. Ich bin wie bei der Urheberrechts-Debatte davon überzeugt, dass europäische Regeln im Internet auch ohne Uploadfilter geltend gemacht werden können und müssen, wenn das Internet weiterhin frei bleiben soll. 

Mit dem Digital Services Act und den erwarteten Regeln zu künstlicher Intelligenz stehen also in der kommenden Legislaturperiode zwei große Brocken im Digitalbereich an, um die sich die Kommission kümmern werden muss. Immerhin ist der Wille da, fundamentale Fragen anzupacken und den digitalen Binnenmarkt weiter auszubessern.

Besondere deutsche Rolle

Es wird sich zeigen, ob die neue Kommission angesichts der Aufteilung der Ressorts an einem Strang ziehen kann. Als rechtspolitischer Sprecher der sozialdemokratischen Fraktion werde ich die Entwicklungen in der Kommission genau verfolgen. Eine besondere Verantwortung trägt auch der Rat, der sich in der Frage, wer Kommissionspräsidentin wird, letztlich durchgesetzt hat. Mit Blick auf die Ratspräsidentschaft im Jahr 2020 kommt der Bundesrepublik hier eine besondere Rolle zu.

*Tiemo Wölken ist rechtspolitischer Sprecher der sozialdemokratischen Fraktion im Rechtsausschuss des Europaparlaments. Bekannt wurde er auf YouTube, wo er auch eine eigene Sendung („Wort zum Sonntag“) hat. Mehr zur Digitalpolitik hier