Die Zerreissprobe

Am Mittwoch will Kommissionschef Juncker neue Ziele für eine gemeinsame Flüchtlingspolitik vorschlagen. Statt 40.000 wie bisher will Juncker die Umverteilung von insgesamt 160.000 Migranten fordern. Wer nicht mitzieht, soll zahlen.

Doch bisher zeichnet sich keine Mehrheit für die neuen Ziele ab. Nicht nur die so genannte Vizegrad-Gruppe (Ungarn, Polen, Tschechien Slowakei) stellt sich quer.

Auch die baltischen Staaten und Großbritannien lehnen eine verpflichtende Quote ab. Sie wollen nur freiwillig helfen – und sich „ihre“ Flüchtlinge selbst aussuchen.

Demgegenüber unterstützen Deutschland und Frankreich die Pläne Junckers. Auch Italien und Griechenland sind dafür.

Deutschland war nicht immer Vorbild

Italien hat schon vor zwei Jahren, nach der ersten großen Bootskatastrophe mit hunderten ertrunkenen Flüchtlingen vor Lampedusa, um Solidarität gebettelt. Damals lehnte selbst Deutschland noch jede Änderung der EU-Regeln ab.

Die so genannte Dublin-III-Verordnung sieht vor, dass Asylbewerber zunächst in dem EU-Land aufgenommen werden, in dem sie ankommen.

Für Deutschland war das bequem – die Mittellage in Europa schirmte es ab. Doch nun sind die Dämme gebrochen, Dublin ist Makulatur.

Auch Schengen gehört auf den Prüfstand

Strenggenommen müsste sich die EU daher um eine Reform der überholten Asylregeln kümmern. Auch die Reisefreiheit im Schengen-Raum gehört auf den Prüfstand. Denn sie wurde nicht für eine Ausnahmesituation wie diese konzipiert.

Stattdessen ist ein Grundsatzstreit über Solidarität und Souveränität entbrannt.

Dabei stehen sich nicht nur West- und Osteuropäer gegenüber – die einen verteidigen Reisefreiheit und Asylrecht, die anderen pochen auf Selbstbestimmung und sichere Grenzen.

Brüssel verstrickt sich in Widersprüche

Auch die EU selbst verstrickt sich in Widersprüche. Einerseits baut sie die „Festung Europa“ aus – sogar mit Kriegsschiffen vor Libyen, die Schlepper abschrecken und zur Not unschädlich machen sollen.

Andererseits sah die Kommission wochenlang tatenlos zu, wie immer mehr Menschen unkontrolliert nach Mitteleuropa wanderten.

Brüssel schwankt zwischen Abschottung und Solidarität, Abschreckung und Hilfe. Genau wie in der Griechenland-Krise ist die Lage durch Zögern und Zaudern immer schlimmer geworden, heute scheint sie fast unbeherrschbar.

Sechs Wochen nach der Beinahe-Spaltung der Eurozone steht die EU vor der nächsten Zerreissprobe. Diesmal geht es allerdings nicht mehr um ein Land – sondern um alle 28.

Diese Analyse habe ich für die Schweizer „Sonntagszeitung“ geschrieben. Das Original ist hier