Die wahre Lage der Union

Es war seine letzte große Rede vor der Europawahl: Kommissionschef Juncker hat zur „Lage der Union“ gesprochen. Eine ehrliche Bilanz hat er jedoch nicht gewagt. Dabei ist die wahre Lage der Union alles andere als erfreulich.

Fangen wir mit dem Positiven an: Vier Jahre nach Junckers Amtsantritt ist die akute Phase der Eurokrise ausgestanden, auch wenn die Schuldenberge weiter wachsen und kein Problem wirklich gelöst wurde.

Kein Land und kaum noch ein Politiker fordert den Austritt aus dem Euro oder der EU. Selbst M. Le Pen und M. Salvini schrecken davor zurück – denn die Bürger hängen an der Gemeinschaft und ihrem Geld.

Die Bürger hängen auch an der Reisefreiheit. Doch das Schengen-System, das Juncker verteidigen will, wird immer brüchiger. Grenzenlos ist die EU schon lange nicht mehr, nach dem Brexit drohen neue Barrieren.

Dazu trägt auch Juncker bei, der die Abschottung mit vielen neuen, teils bewaffneten Grenzbeamten vorantreiben will. Dass im Gegenzug auch wieder die Kontrollen in Deutschland fallen, glaubt derzeit niemand.

Denn die Lage ist so, dass gegen Deutschland nichts mehr geht, ohne Schland auch nicht. Der von Kanzlerin Merkel erwählte Juncker hat das „deutsche Europa“ auf die Spitze getrieben, wie „Libération“ konstatiert.

Dagegen wäre wenig einzuwenden, würde Merkel-Deutschland die EU endlich wieder voranbringen. Doch das Gegenteil ist der Fall. Merkel hat den „Aufbruch für Europa“ abgeblasen und Euro-Reformen aufgeschoben.

Auch der Widerstand gegen US-Präsident Trump, den die Kanzlerin immer mal wieder ankündigt, ist ins Wasser gefallen. Damit deutsche Autos weiter exportiert werden dürfen, müssen wir jetzt mehr US-Sojabohnen importieren!

Das größte Problem ist aber, dass die EU nunmehr auch im Innern zerfällt. Nord gegen Süd beim Euro, Ost gegen West bei den Flüchtlingen, Etablierte gegen „Populisten“ – und jeder gegen jeden, wenn es ums Geld geht.

Eine gemeinsame Vision von der Zukunft fehlt ebenso wie ein einigendes Band. Denn die „Macht in der Mitte“ (Münkler über Deutschland), die den Laden zusammenhalten soll, steckt selbst in der Krise, Merkel ist geschwächt.

Deshalb geht Juncker mit leeren Händen in ein Wahljahr, das von einem deutschen Spitzenkandidaten von Merkels Gnaden gewonnen werden soll. Die Rede zur „Lage der Union“ ist übrigens auch mit Merkel abgestimmt…

Siehe zur EU-Lage auch mein E-Book „Vom Modell zum Problemfall“

WATCHLIST: Das Europaparlament stimmt über das Artikel-7-Verfahren gegen Ungarn ab. Man sollte darauf achten, wo EVP-Fraktionschef Weber steht – auf Seiten Orbans oder der Grundwerte? Außerdem unternehmen die Abgeordneten einen zweiten Anlauf zur Copyright-Reform. Da stand es bis zuletzt es 50:50, räumte der CDU-Rapporteur Voss ein.

WAS FEHLT: Biss beim Rechtsstaats-Verfahren gegen Polen. Gerade wurde bekannt, dass sieben Richter am obersten Gericht gehen müssen – obwohl die EU gegen die Justizreform vorgegangen war. Doch die Regierung in Warschau lässt sich von den Einwänden aus Brüssel nicht beirren und zieht ihre Pläne durch. Hoffentlich bringt dies nicht auch Ungarns Orban auf Ideen…