Die verdrängte Krise

Ist die EU noch zu Selbstkritik fähig – und damit zu Reformen? Diese Frage stellt sich am B-Day, dem Brexit-Tag, in Brüssel. Die EU-Spitze beschwört die Einheit, doch die tiefe Krise der EU wird (wieder einmal) verdrängt.

“Unsere Erfahrung hat uns gelehrt, dass Stärke nicht in ‘wunderbarer Isolation’ liegt, sondern in unserer einmaligen Union”, sagt Kommissionspräsidentin von der Leyen. Künftig müsse man die Erwartungen der Bürger in den Mittelpunkt stellen, erklärt Ratspräsident Michel. Europa müsse dabei “täglich seinen Mehrwert zeigen”.

Es sind dieselben Sprüche, die auch schon vor dem britischen EUReferendum 2016 heruntergebetet wurden. Gefolgt ist daraus wenig. Die “einmalige Union” hat sich als zu schwach erwiesen, um den Iran-Deal zu retten, und als zu bürgerfern, um die Zeitumstellung (wie versprochen) abzuschaffen – um nur zwei Beispiele zu nennen.

Vor allem hat sie sich immer noch nicht der Frage gestellt, warum es zum Brexit kommen konnte. Dabei war mehr als genug Zeit – und es liegen überzeugende Indizien auf dem Tisch. Die Mischung aus Austeritätspolitik und Flüchtlingschaos hat den Brexiters den Sieg ermöglicht – zusammen mit der Sprachlosigkeit der EU.

Ex-Kommissionschef Juncker hat immerhin schon zugegeben, dass es ein Fehler war, vor dem britischen Referendum abzutauchen und zu schweigen. Doch was ist mit Kanzlerin Merkel, die bis zuletzt mit Ex-Premier Cameron gekungelt hatte? Sie war für für den giftigen Cocktail des Jahres 2016 mit verantwortlich.

Und die Krise ist noch nicht überstanden. Zwar beruhigt man sich in Berlin mit (angeblich) hohen Zustimmungswerten für die EU. Auch die hohe Wahlbeteiligung bei der Europawahl wird gerne angeführt. Doch der Betrug an den Wählern bei der Nominierung von Frau von der Leyen wird geflissentlich verschwiegen.

Die DemokratieKrise, die Cameron in seiner berüchtigen Bloomberg-Rede anführte, ist größer denn je. Auch die Flüchtlingskrise ist nicht gelöst. Einzig die Austeritätspolitik wurde ein wenig gelockert. Aber Deutschland weigert sich auch heute noch, einen fiskalpolitischen Stimulus zu setzen, wie es der IWF fordert.

Und es kommen neue Krisen hinzu – Stichwort Iran, aber auch Irak, Syrien, Libyen und Nahost. Wo ist denn die “geopolitische Kommission”? Und wo ist das “souveräne Europa”, wenn es um den Handelsstreit mit den USA geht? Von der Leyen scheint schon einzuknicken, bevor sie nach Washington fährt.

Als größtes Problem könnte sich aber ein Aspekt erweisen, der bisher kaum beachtet wurde: Dass es nun doch noch zum Brexit kommt, ist eine schwere Niederlage für die EU. Schließlich hat sie in den letzten Monaten nichts unversucht gelassen, um den Austritt abzuwenden und das Brexit-Votum zu annullieren.

Der Brexit darf kein Erfolg werden

Zum ersten Mal in der jüngeren Geschichte ist es nicht gelungen, einen aus Sicht der EU-Eliten nachteiligen Volksentscheid rückgängig zu machen. Im Streit um den Verfassungsvertrag mit Frankreich, den Niederlanden und Irland war das noch anders – da setzte sich der Mainstream durch.

Umso mehr dürften die europäischen Eliten nun versuchen, Großbritannien in die Suppe zu spucken. Der Brexit darf kein Erfolg werden – denn sonst wäre ja erwiesen, dass es auch ohne die EU geht. Und das könnte die nächste – womöglich fatale – Krise auslösen…

Siehe auch EU-Krise: 2020 wird das Jahr der Wahrheit und “Nach dem Brexit ist vor dem nächsten Deal”. Außerdem wäre da noch “Das Ende der EU – wie wir sie kennen” (E-Book)

P.S. Sogar der Chef der konservativen EVP-Fraktion, M. Weber (CSU), teilt unsere Analyse: “Wenn der Brexit gefühlt ein Erfolg wird, dann ist er der Anfang vom Ende der EU”, sagte er der “Welt”. Na dann, legt schon mal ein paar Stolpersteine aus…