Die Unberechenbare

Beim EU-Gipfel hat Kanzlerin Merkel eine Vertiefung der Euro-Währungsunion verhindert. Gemeinsam mit den Niederlanden und Finnland kassierte sie die Pläne der vier EU-Präsidenten ein. Zu Hause in Berlin dürfte dies niemand stören, wie die neuesten Umfragewerte für Merkel zeigen: sie ist auf dem Höhepunkt ihrer Macht. Doch in Brüssel gilt die Kanzlerin als unberechenbar – zu oft ist sie ihren EU-Kollegen in den Rücken gefallen.

Einen „ehrgeizigen Fahrplan“ mit „konkreten Maßnahmen“ zum Umbau der Währungsunion hatte Merkel noch im November versprochen. Doch beim EU-Gipfel Ende letzter Woche blieb davon nicht viel übrig. Einen Tag vor dem Treffen begann die Kanzlerin plötzlich, sich auf Ratspräsident Van Rompuy und dessen Beschlussvorlage einzuschießen (siehe “Merkel mobbt Van Rompuy”).

Danach dampfte sie die angekündigte große Reform, hinter der auch EZB-Chef Draghi, Eurogruppenchef Juncker sowie Kommissionspräsident Barroso standen, auf einen vagen Fahrplan für mehr Wettbewerbsfähigkeit ein. Ein “enttäuschender Gipfel” sei dies gewesen, heißt es in einer lesenswerten Analyse des Brüsseler Thinktanks EPC. Vor allem die Enttäuschung über Merkel ist groß.

Schließlich ist es nicht zum ersten Mal, dass die “eiserne Kanzlerin” die EU-Granden brüskiert. In den letzten Jahren hat Merkel es geradezu zum Markenzeichen ihrer EU-Politik gemacht, mit allen Grundsätzen der deutschen Außenpolitik zu brechen. Verlässlichkeit und Berechenbarkeit waren gestern, neuerdings vollzieht Deutschland ständig abenteuerliche Kurswechsel. Hier ein paar Beispiele:

  • Die Energiewende. Sie kam nicht nur für die Deutschen überraschend, auch die EU-Politiker hatten keinen blassen Schimmer. Selbst der deutsche Energiekommissar Oettinger wurde kalt erwischt – er knabbert noch heute an den Folgen, wie er erst heute im Morgenmagazin sagte.
  • Der Schuldenschnitt in Griechenland. Monatelang behaupteten Merkel und Schäuble, der von Berlin als Strafmanöver angelegte erste Hilfsplan für Griechenland laufe voll nach Plan. Dann kam plötzlich die Wende: Berlin forderte einen Schuldenschnitt der privaten Gläubiger – und schlug alle Warnungen der EZB und des französischen Verbündeten Sarkozy in den Wind. Die Folge: Chaos an den Finanzmärkten, allgemeines Misstrauen in den Euro, Italien und Spanien geraten in den Sog der Krise. Von den Folgen hat sich die Eurozone bis heute nicht erholt.
  • Die Grexit-Debatte. Das Berliner Sommertheater ging dieses Jahr auf Kosten der Griechen und des Vertrauens in den Euro Wochenlang sah Merkel tatenlos zu, wie Schäuble, Wirtschaftsminister Rösler und ein paar bayerische Provinzpolitiker mit dem Feuer eines “Grexit” spielten. Dann schwenkte sie plötzlich um, reiste nach Athen – und erklärte einen Rausschmiss für undenkbar. Wie es genau zu dieser Wende kam, ist bis heute unklar.
  • Der Budgetstreit. Vor dem Budget-Sondergipfel im November lobte Merkel die Verhandlungstaktik von Ratspräsident Van Rompuy. In internen Papieren hieß es sogar, der Belgier bewege sich mit seinen Vorschlägen schon in der Zielzone. Doch beim Gipfel schwenkte Merkel plötzlich ins Lager der Hardliner und forderte weitere Kürzungen. Seither versteht Van Rompuy die Welt nicht mehr, und Merkel hat ein paar neue zweifelhafte Freunde.
  • Der EU-Reformgipfel. Dazu ist alles gesagt, Merkel hat die Reform der Währungsunion auf die Zeit nach Bundestags- und Europawahl verschoben. Damit kommt sie den Wünschen ihrer Wähler entgegen, riskiert allerdings eine neue Zuspitzung der Krise im Wahljahr. Denn die Eurozone ist alles andere als krisenfest – neben den finanziellen und wirtschaftlichen kommen 2013 auch noch politische Risiken (Stichwort: Italien) dazu.

Wenn es schlimm werden sollte, traue ich Merkel allerdings auch einen neuen Sinneswandel zu; schließlich will sie ja die Bundestagswahl gewinnen. Statt “Schritt für Schritt”, wie sie so gern behauptet, kann es dann auch wieder Holter-die-Polter voran oder auch rückwärts gehen, wie so oft in den letzten Jahren…

 

 

P.S. In der britischen FT deutet Merkel schon wieder eine Wende an. Dort warnt sie vor den Kosten des Wohlfahrtsstaates und mahnt “harte Arbeit” zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit an. Die neoliberale Offensive geht weiter…
photo credit: European People’s Party – EPP via photopin cc