Die Totengräber (III)

Diese EU ist keine Erfolgsgeschichte, keine Hoffnung mehr. Die Not ist für viele einfach viel zu groß. Seit 2008, dem Ausbruch der Finanzkrise, ist die Arbeitslosenquote in der EU auf fast zehn Prozent gestiegen. Fortsetzung und Schluss des Essays von Arno Luik, Teil 2 steht hier

Waren damals 16 Millionen Bürger in der EU ohne Arbeit, sind es heute über 21 Millionen. Betroffen sind vor allem junge Menschen. Aktuell liegt die Arbeitslosenquote für Jugendliche in Griechenland bei 50 Prozent, in Spanien bei 44 Prozent, in Italien bei 37 Prozent, in Portugal bei 28 Prozent, in Frankreich bei 23 Prozent. Nach einer Bertelsmann-Studie fühlen sich europaweit fast 30 Prozent aller Unter-18-Jährigen von Armut und Ausgrenzung bedroht. In Spanien, Irland, Italien hat sich der Anstieg der Armut verdoppelt. In Rumänien litten 2013 28 Prozent der Bevölkerung an materieller Deprivation, in Ungarn und Lettland über 26 Prozent. Viele Länder in der EU stehen vor einem verlorenen Jahrzehnt.

Europa heute: Das ist die Heimat der Reichen und die Heimat der Habenichtse. Eine Unheimat.

Das Votum der Briten markiert jetzt den Anfang vom Ende dieser EU.

Sicher, der Brexist ist nicht vernünftig. Aber welche Vernunft führte zur Finanzkrise, die Staaten in den Ruin trieb und Millionen ihrer Bürger in die Armut stürzte? Der scheinbar verrückte Brexit ist nicht die Laune eines eh etwas merkwürdigen, ziemlich durchgeknallten Inselvolks. Dieses Votum ist eine Abrechnung mit der Politik Londons, Brüssels, Berlins. Ein lang gärender Unmut schuf das historische Ereignis Brexit.

Die Botschaft des Brexit: Wir haben die Schnauze voll

Beim Brexit ging es letztlich um viel mehr als die EU. Das Referendum ist ein Aufschrei: Wir haben genug von der Tristesse unserer Städte, den Geschäftsstraßen ohne Gesschäfte, den Minijobs, von denen man nicht in Würde leben kann. Wir haben die Schnauze voll. Die Stimmung ist offenbar so schlimm, dass die Tat des Unvernünftigen für viele das einzig Vernünftige zu sein scheint.

Und daran, leider, sind auch die einstmals so großen und stolzen konservativen und sozialdemokratischen Parteien Schuld, sie haben ihre Klientel verraten. Sie nannten es “alternativlose Reformen” und haben soziale Strukturen, die mühsam von mehreren Generationen aufgebaut worden waren, demontiert. Sie haben den Kündigungsschutz durchlöchert, die Renten gekürzt, kommunale Krankenhäuser an Konzerne verkauft, sie haben Arbeitsmärkte flexibilisiert, sie haben privatisiert, dereguliert, und sie haben den Finanzmarkt liberalisiert, kurz: Sie haben zu viele Menschen zu brutal in ihrem Dasein erschüttert. Sie haben ihnen ihre Heimat genommen. Das rächt sich jetzt.

Wenn Alternativen nicht mehr denkbar sein dürfen, das zeigt auch die Geschichte der kollabierten Sowjetunion, dann knallt es. Früher oder später, aber es knallt auf jeden Fall.

Deutschland wird bewundert, aber auch gehasst und gefürchtet

Wer verstehen will, weshalb die Fliehkräfte aus der EU immer stärker werden, muss – was für Deutsche etwas unangenehm ist – sich auch mit der Rolle Deutschlands auseinandersetzen. Deutschland ist wirtschaftlich die stärkste Macht. Ein ökonomischer Riese. Dafür wird das Land bewundert, aber fast mehr noch: gehasst und gefürchtet.

In Brüssel mögen Bürokraten agieren, aber in Berlin wird bestimmt, wie das Europa aussehen und wie sich die einzelnen Nationen zu verhalten haben. Die EU mag eine Gemeinschaft sein, aber jeder in Europa weiß, dass die mächtigste Akteurin des Kontinents die deutsche Kanzlerin ist. Und dass ihr Finanzminister Schäuble so viel Macht hat, ist nicht gut für Europa. Ständig hören vor allem Griechen, Italiener, Spanier und Portugiesen, oft in rüdem Ton, was Berlin von ihrer Wirtschaftspolitik hält – und wo sie noch zu sparen haben. Aber, und das offenbart ein gewaltiges demokratisches Defizit dieser an zu vielen demokratischen Defiziten krankenden Gemeinschaft: Nur Deutsche haben diese Kanzlerin und ihren Finanzminister gewählt. Wem fühlen sie sich verpflichtet? Etwa den Griechen?

Europa rettet – deutsche Banken

Diese politisch-hegemoniale Macht empfinden viele Europäer zunehmend als entmündigend und beleidigend. “Die britische Öffentlichkeit”, analysierte kürzlich die “Zeit”, “hat mit erstauntem Gruseln verfolgt, wie die Regierung Merkel/Gabriel ihr Europa dazu eingesetzt hat, Griechenland abzuwirtschaften und zu demütigen, zur Rettung deutscher und französischer Banken.”

Die Angst in Europa vor deutscher Vorherrschaft, die hierzulande kaum thematisiert wird, war im Brexit-Wahlkampf ein wichtiges Thema. “Halt ze German advance!” hieß es auf, zugegeben, ziemlich geschmackslosen Plakaten. Man möge den deutschen Vormarsch stoppen. Und auf den Titelseiten spanischer und portugiesischer Zeitungen tauchten im Vorfeld der EU-Entscheidung vergangener Woche regelmäßig “die Drohungen Schäubles” auf, diese Länder wegen des Defizits mit Sanktionen “zu bestrafen”.

So entsteht dieses Murren, entsteht diese Verzweiflung, schließlich die Wut: Wir sind nicht mehr Herr im eigenen Haus. Wir sind fremdbestimmt. Ein Lebensgefühl, das als gefährliche Grundströmung in fast allen europäischen Ländern vorhanden ist.

Für Optimismus in Sachen EU gibt es derzeit wenig Anlass. Durchaus möglich, dass unter dem Ansturm rechtsnationaler Parteientruppen dieses verunsicherte Europa bald zerbröselt. Manches deutet darauf hin, dass Geschichte sich vielleicht doch wiederholen könnte: In Ungarn und Polen sind, wie in den Zwanzigern des vorigen Jahrhunderts, Rechtsnationale an der Macht, und wie seit hundert Jahren nicht mehr, hetzen jetzt dort Minister gegen Minderheiten, verteufeln sie Juden, Schwule, Sinti und Roma.

Der Hass auf das Fremde wuchert in fast allen Ländern

Dieser Hass auf das Andere, das Fremde, auch der unbändige Zorn auf Brüssel wuchert in fast allen Ländern des Kontinents, bei der AfD in Deutschland, beim Front National in Frankreich, bei der Lega Nord in Italien, bei der Partei für die Freiheit in den Niederlanden, den Wahren Finnen in Finnland, bei den Schwedendemokraten in Schweden, bei der FPÖ in Österreich. Und Marine Le Pen tut alles, um 2017 auch in Frankreich ein Referendum über Europa herbeizuführen. Wenn es so weit kommt – warum soll es anders ausgehen als in Großbritannien?

Europa steht vor dem Schritt ins Dunkle.

Und es streckt gerade den ersten Fuß aus, um diesen Schritt zu gehen. Denn die Machtstrategen in Brüssel, London, Berlin tüfteln an einer Exit-Strategie vom Brexit, also wie sie den Wählerwillen des britischen Volkes aushebeln könnten. Zwar heißt es offiziell in London, man werde den Wählerwillen umsetzen, man bemühe sich um “gute Bedingungen” für den EU-Abgang. Aber im Politsprech heißt das: Wenn die Bedingungen schlecht sind, und das werden sie wohl sein, macht man eine neue Abstimmung. Und dann wird das geschockte Volk, so die Hoffnung, sich schon so verhalten, wie es die sogenannte Elite wünscht. Eine unselige Trickserei mit Tradition in der EU. So haben es die Politiker in Irland ja bei zwei Referenden auch schon getan, weil ihnen das “Nein” nicht gepasst hatte.

Natürlich kann man das Volk nochmals zur Wahlurne bitten. Doch mit der Wiederholung der Brexit-Abstimmung würde die EU den letzten Rest demokratischer Glaubwürdigkeit verlieren – und den Regierenden ihre EU endgültig um die Ohren fliegen. Und damit könnte eines der großartigsten Projekte der Menschheitsgeschichte, die Europäische Union, aus der Geschichte kippen, zu einer EUdSSR werden.

Europa braucht eine Revolution des Denkens

Ist das zu pessimistisch gedacht? Eher nicht. Die Europäer spüren, nein, sie wissen, viel zu viel läuft grundfalsch. Aber Besserung ist nicht in Sicht. Es gibt bei diesem europäischen Politpersonal auch keinen, aber wirklich keinen, der glaubhaft und überzeugend diese Vision eines neuen, vitalen, vor allem gerechten Europa verkörpert. Da ist keiner, der die immer mehr an der EU Verzweifelnden begeistern könnte für diese Union. Niemand, über den man sagen könnte: Der kümmert sich tatsächlich um die Jugendarbeitslosigkeit. Der will dafür sorgen, dass die Großkonzerne ordentlich und europaweit die gleichen Steuern zahlen. Dass die Arbeitnehmer für die gleiche Arbeit den gleichen Lohn bekommen.

Europa, wenn es wirklich als Einheit überleben will, braucht eine politische Revolution. Eine Revolution des Denkens. Es braucht einen Rückschritt in die Zukunft: Die Rückkehr zu einer Union, die sich um ihre Bürger wirklich kümmert. Es braucht eine Kultur, in der die Begriffe, die rituell als altmodisch verhöhnt werden, wieder Leitziele moderner Politik sind: Gemeinwohl. Soziale Gerechtigkeit. Sozialstaat. Ein weiter Weg. Aber es ist höchste Zeit, den ersten Schritt zu tun.

“Die Bevölkerungen sind nicht das Problem”, möchte man jetzt dem Bundespräsidenten zurufen, um fortzufahren: “Die Eliten sind im Moment das Problem.” Er würde aber, so ist zu befürchten, diesen Zuruf nicht verstehen.

Nein, so hätte Europa nicht werden sollen, so nicht.

Arno Luik (61), geboren in Königsbronn auf der Ostalb, ist Autor des Magazins “Stern”. Sein Beitrag erschien zuerst in der Wochenzeitung “Kontext”.  Repost mit freundlicher Genehmigung der Redaktion – danke!