“Die Spitze des Eisbergs”, der Geiz beim Gas – und Milliarden für Waffen
Die Watchlist EUropa vom 13. Dezember 2022 – Heute mit dem Korruptionsskandal im Europaparlament, dem Nachbeben in der EU-Kommission, dem Streit um den Gaspreisdeckel – und noch mehr Geld für die europäische Kriegskasse namens “Friedensfazilität”.
Der Korruptionsskandal im Europaparlament beschäftigt nun auch die EU-Kommission. Die Vorwürfe gegen die Vizepräsidentin des Parlaments, Eva Kaili, seien „sehr schwerwiegend“, sagte Kommissionschefin Ursula von der Leyen. Die EU brauche “die höchsten Standards“ bei Unabhängigkeit und Integrität. Deshalb werde sie sich auch die Vorgänge im eigenen Haus näher ansehen.
Kaili wird beschuldigt, Geld von Katar entgegen genommen zu haben, das damit offenbar EU-Entscheidungen zu seinen Gunsten beeinflussen wollte. Doch nicht nur die 44-jährige, mittlerweile inhaftierte Griechin hat sich wohlwollend über Katar geäußert. Auch von der Leyen pries das Emirat. Nach einem Telefonat nannte sie Emir Tamim bin Hamad Al Thani im Januar einen „verlässlichen Partner“.
Eine verdächtige Nähe wird auch einem von der Leyens prominenten Stellvertretern nachgesagt. Kommissionsvize Margaritis Schinas hatte Katar gemeinsam mit Kaili zur Eröffnung der Fußball-Weltmeisterschaft im November besucht und Regierungsmitglieder getroffen. In einem Tweet schrieb er, Katar habe “beträchtliche und greifbare Fortschritte bei den Arbeitsreformen erzielt“.
Neue Durchsuchungen
Das klingt nach Lobhudelei – und hatte sogar praktische Folgen. So hat sich die EU-Kommission auch im Streit um eine Visa-Liberalisierung für Katar eingesetzt. Die Erleichterung sollte ursprünglich am Montag im Europaparlament diskutiert werden. Wegen des Korruptionsskandals wurde sie jedoch in letzter Minute von der Tagesordnung gestrichen.
Dennoch bleibt die Frage, ob der „Fall Kaili“ ein Einzelfall ist – oder ob mehr dahinter steckt, wie der Karlsruher EU-Abgeordnete René Repasi vermutet. Der SPD-Politiker spricht von der „Spitze des Eisbergs“. Der Skandal könne noch weitere Kreise ziehen. Tatsächlich kam es am Abend zu weiteren Durchsuchungen im Brüsseler Parlamentsgebäude durch die belgische Polizei.
“Angriff auf das EU-Parlament”
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Dabei sollten Daten elektronischer Geräte aus den Büros von zehn Abgeordneten sichergestellt werden, wie die Staatsanwaltschaft mitteilte. Parlamentspräsidentin Roberta Metsola kündigte eine interne Untersuchung an. Die Vorgänge, die mit dem Fußball-WM-Gastgeberland Katar in Zusammenhang stehen, seien ein “Angriff auf die europäische Demokratie” und das EU-Parlament.
“Böswillige, mit autokratischen Drittstaaten verbundene Akteure” hätten wohl Nichtregierungsorganisationen, Gewerkschaften sowie Europaabgeordnete und deren Mitarbeiter “als Waffe eingesetzt, um unsere Verfahren zu untergraben”, erklärte Metsola. Das klang fast so, als wolle sie wieder einmal Russland beschuldigen, das in der EU für alle Probleme verantwortlich gemacht wird.
Doch diesmal geht es um Katar, unseren “verlässlichen Partner”, der Russland bei der Gasversorgung ablösen soll und schon halb EUropa aufgekauft hat. Und der “Angriff” kam nicht (nur) von außen, sondern offenbar auch von innen, aus dem selbst ernannten Herzen der “europäischen Demokratie”, das nicht einmal ein Initiativrecht hat…
Siehe auch “Special: Diese Skandale erschüttern die EU” und “Katar first: So käuflich ist EUropa”
Watchlist
Kommt doch noch ein europaweiter Gaspreisdeckel? Darüber diskutieren am Dienstag die Energieminister. Der deutsche Ressortchef Robert Habeck steht weiter auf der Bremse. Obwohl Deutschland den Gasmarkt zu Mondpreisen leergekauft hat und eine nationale Gaspreisbremse einführt, gönnt man den EU-Partnern keine ähnlichen Maßnahmen – aus Angst, das Gas könne knapp werden…
Was fehlt
Mehr Geld für Waffen. Die EU will ihre Finanzmittel zur militärischen Unterstützung von Ländern wie der Ukraine mehr als verdoppeln. Die Außenminister der EU-Staaten beschlossen, die finanzielle Obergrenze für die sogenannte Europäische Friedensfazilität um 2 Milliarden Euro zu erhöhen. Bis 2027 soll dann eine weitere Erhöhung um 3,5 Milliarden Euro möglich sein…
KK
13. Dezember 2022 @ 12:45
“Doch diesmal geht es um Katar, unseren “verlässlichen Partner”, der …schon halb EUropa aufgekauft hat.”
Halb Europa? Ich denke langsam, man müsse hier eher schreiben:
Ganz Europa wurde von Katar gekauft!
Ganz?
Ganz!
Denn vom dafür vorgesehenen kleinen, unbeugsamen Dorf OLAF hört man ja nichts…
Und Frau von und zu den Laien soll sich mal nicht so weit aus dem Fenster lehnen: Ihre Pfizer-SMS stehen ja auch noch aus!
Thomas Damrau
13. Dezember 2022 @ 09:13
Nein – also jetzt bin ich aber enttäuscht. Bisher hatte ich angenommen, die ganzen Lobbyisten, die in Brüssel herumschwirren, kämen, um Staub zu wischen und die Blumen zu gießen.
Die Abgeordneten eines jeden Parlaments sind lohnende Ziele für Einflüsterer von allen Seiten. Das fängt mit Abgeordneten an, die sich (meist unentgeltlich) für Betriebe in ihrem Wahlkreis einsetzen, ohne sich zu fragen, ob dies wirklich der Allgemeinheit hilft. Und dann vermittelt man auch mal seinen Spezies ein lukrativen Auftrag, für den sich die Spezies erkenntlich zeigen. Oder Unternehmen betreiben eine sysmtematische “politische Landschaftspflege”.
Wenn so etwas auffliegt, ist die Empörung groß. Es werden 1000 Schwüre geleistet, was man alles tun werde, damit so etwas nie wieder vorkommen werde. Im Extremfall stellt sich dann heraus, dass der Vorgang zwar moralisch verwerflich war – aber nicht strafbar. Und irgendwann löscht der nächste Aufreger die Äffare aus dem kollektiven Bewusstsein. (Erinnert sich noch jemand an die deutschen “Masken-Deals”, die laut Gerichtsurteil so illegal nicht waren?) Es bleibt dann den “zuständigen” NGOs überlassen, den dubiosen Vorgängen weiter hinterher zu recherchieren.
So weit – so normal und schlecht. Wozu die Aufregung? So etwas sind wir ja auch “bei uns” gewohnt. Wenn man sich über den aktuellen Korruptionsfall auf europäischer Ebene (zu Recht) aufregt, sollte man das Gesamtbild nicht aus den Augen verlieren:
– Brüssel ist einerseits weit weg – nicht geographisch, aber was die öffentliche Aufmerksamkeit betrifft – und hat andererseits sehr viele Kompetenzen an sich gezogen, wenn es um Wirtschaft geht. Dieses Wurschteln im Schatten macht die europäischen Institutionen besonders attraktiv für “Influencer”.
– Die übliche Gewaltenteilung ist auf europäischer Ebene nur rudimentär implementiert: Eine Exekutive, die im HInterzimmer ausgekaspert wird und der kastrierten Legislative nicht wirklich Rechenschaft schuldet. Eine Judikative, die in erster LInie als Wirtschaftsgerichtshof agiert. In solch einem Biotop gedeihen Durchstechereien.
– Bei allen Versuchen, Transparenz zu simulieren, ist die in Brüssel betriebene “Landschaftspflege” daher immer noch reichlich undurchsichtig.
– Zusätzlich schwappt die lokale Korruption oft auf die europäische Ebene. Das fängt mit russichen Oligarchen an, die man gar nicht so einfach sanktionieren kann, weil sie sich rechtzeitig die maltesische, cypriotische, … Staatsangehörigkeit gekauft haben. Das geht weiter mit Unions-Staaten, die mit internationalen Konzernen Deals nach dem Prinzip “niedrige Steuern, wenn Du sie bei uns (auch ohne wirkliche lokale Geschäftstätigkeit) entrichtest” – und dann ihr “Geschäftsmodell” in der EU mit Zähnen und Klauen verteidigen.
– So wie der Bundestagsabgeordnete seinen lokalen Betrieb promotet, drücken die Regierungschefs der Unions-Staaten rücksichtslos die Interessen ihrer Großkonzerne durch. (Frau Merkel war da die ganz große Spezialistin.)
Deshalb meine Vermutung: Nach demonstrativer Empörung, partieller Selbstkasteiung und dem Versprechen, so etwas werde man künftig zu verhindern wissen, wird bald wieder Businness-As-Usual angesagt sein.
Da hilft nur eine umfassende Reform des ganzen EU-Betriebs.
Thomas Fiedler
13. Dezember 2022 @ 08:44
Na gut, es ist nicht undenkbar, dass da mehr rauskommt. Aber genauso vorstellbar ist, dass es eine einzelne hasardeuse Geschichte war. Über die Mechanismen der EU zur Abwehr von Korruption wird in den letzten tagen kaum berichtet. Viele Projektmanager und andere EU-affine Menschen haben aber auch schon die Erfahrung einer fortwährenden gereizten Widerborstigkeit bei Abgeordneten und Kommissions-Mitarbeitern erlebt, wenn sie versuchten, einmal außerhalb der “normalen” Wettbewerbsstrukturen für eine Projektidee zu werben (ohne Geld in der Hand, versteht sich, aber das jetzt bitte nicht zur erhärteten Vermutung umdrehen). Ich habe z.B. einmal die Eselei begangen, mit einem Lobbyisten, der den Termin eingefädelt hatte, bei einem Kommissionsmitarbeiter vorzusprechen, um in aller Unschuld zu fragen, ob meine Projektidee in einem bestimmten Förderprogramm überhaupt eine Chance hätte. Wir standen 2 Minuten später wieder vor dem Gebäude; ein klassischer Rauswurf. Und was ist eigentlich mit OLAF? Haben die was gewusst? Und vielleicht – ohne es gleich herauszuposaunen – die Aktionen der Strafverfolgungsbehörden angestoßen? Ich glaube zunächst einmal nicht an den Eisberg, bevor nicht Beweise dafür vorliegen, auch wenn die Medien ihn jetzt laustark herbeireden.
ebo
13. Dezember 2022 @ 09:36
Gute Frage – was macht eigentlich OLAF? Die Antikorruptionsbehörde ist merkwürdig abwesend.
Auffällig ist auch, wie hyperaktiv die EU reagiert. Während die Ermittlungen der belgischen Justiz noch laufen, werden die Verdächtigen bereits aller Ämter enthoben und exkommuniziert.
Immunitiät? Unschuldsvermutung? Scheint es in diesem Fall nicht zu geben. Die Betroffenen werden nicht einmal von ihren (Ex-)Kollegen angehört.
Das spricht auch nicht gerade für einen funktionierenden Rechtsstaat…
Thomas Damrau
13. Dezember 2022 @ 09:41
@Thomas Fiedler
Ihre Erfahrung muss nicht der These widersprechen, dass in der EU oft Entscheidungen auf dubiose Weise zu Stande kommen: Der offizielle Weg (“ich habe da eine Idee”) ist häufig durch Regeln blockiert, während das tänzerische Umgarnen der Entscheidungsträger oder verdeckter Druck Türen öffnen.
Sich mit gefülltem Geldkoffer erwischen zu lassen, gilt in den besseren Kreisen als Dilettantismus.