Liberal ist die EU auch nicht mehr
Dass die EU ein Demokratie-Problem hat, ist bekannt. Nun kommt auch noch ein Liberalismus-Problem hinzu. Wir werden Zeugen einer illiberalen Wende in der EU – und das kurz vor der Europawahl. – English version here
Das jüngste Beispiel war die Räumung der Freien Universität in Berlin, nachdem dort Studenten ein Protestcamp für Palästina und gegen den Krieg in Gaza errichtet hatten. Dialog? Fehlanzeige! Die FU rief gleich die Polizei.
Nun protestieren 143 Professoren und Dozenten in einem offenen Brief gegen den harten Kurs der FU. Die Meinungs- und Versammlungsfreiheit müsse auch in der angespannten Lage wegen des Nahostkonflikts geschützt werden.
Doch das wird sie nicht. Nicht in Berlin, wo sich die Politik ausdrücklich hinter die FU und die Polizei stellt – aber auch nicht in Brüssel oder Paris, wo ebenfalls Universitäten geräumt und Studenten verhaftet wurden.
Die Kriegsverbrechen in Gaza – manche sprechen von “Völkermord” – sollen totgeschwiegen werden. Deutschland und Frankreich schrecken nicht einmal vor Einreise- und Redeverboten zurück, um die harte Linie durchzusetzen.
Mussolini läßt grüßen
Es geht aber nicht nur um Gaza und die neue Studentenbewegung, die systematisch unterdrückt wird. Es geht auch um Italien, wo Journalisten wegen der “allgegenwärtigen Kontrolle durch die Politik” in den Streik treten.
Und es geht um EU-Beitrittskandidaten wie die Ukraine und Moldau, wo reihenweise mißliebige Sender verboten werden und das Fernsehen in einem staatlich kontrollierten sogenannten „Telemarathon“ gleichgeschaltet wird.
Bisher hat es sowas nur in “illiberalen Demokratien” wie Ungarn gegeben. Die Idee geht auf den italienischen Duce Benito Mussolini zurück, der den Untergang des Liberalismus und den Aufstieg des illiberalen Europa propagierte.
Autoritärer Ungeist
Die Kriege in der Ukraine und in Israel und Gaza bringen diesen autoritären Ungeist nun zurück. Allerdings kommt er diesmal in liberalem Gewand. Verbote und Zensurmaßnahmen sollen die “liberale Demokratie” schützen, heißt es.
Doch was ist das für eine Demokratie, in der sogar prominente Europapolitiker wie Varoufakis mit einem Bann belegt werden? Und was ist das für ein Liberalismus, der den Bereich des Sagbaren immer mehr einschränkt?
Das muß sich sogar die FDP fragen lassen, die doch für Liberalismus stehen will. Ausgerechnet FDP-Bildungsministerin Stark-Watzinger sagte, das Statement von Lehrenden in Berlin zugunsten der Meinungsfreiheit mache sie “fassungslos”…
Siehe auch Iliberale Wende: Varoufakis verklagt Deutschland sowie unseren Update
P.S. Auch die Angriffe auf Politiker in Deutschland zeugen von einem aggressiven, illiberalen Klima. Darüber wird zu Recht breit berichtet – doch die Unterdrückung unerwünschter Meinungen ist kein Thema. Warum nur?
Dieser Beitrag ist zuerst in unserem Newsletter “Watchlist Europa” erschienen. Mehr Newsletter und Abonnement per Mail hier
Arthur Dent
12. Mai 2024 @ 15:14
Ich denke, Unis haben eine Hausordnung und ein Hausrecht. Ein öffentlicher Raum ist ein Ort, zu dem jedermann Zugang hat, das stelle ich mal bei Unis in Zweifel. Wenn Protestcamps in diesem Falle erlaubt sind, dann sind sie auch für alle anderen Themen erlaubt. Wo fängt das an und wo hört es auf?
Varoufakis will nach Deutschland um hier darüber zu diskutieren, wie gleiche politische Rechte für alle Menschen im Konfliktgebiet des Nahen Ostens erreicht werden können. Echt jetzt? Warum diskutiert er das nicht in Jordanien, im Jemen, Saudi-Arabien oder in Israel?
Mir ist auch kein anderer EU-Politiker eingefallen, der ungefragt nach Deutschland kommt um sich hier politisch zu betätigen.
european
11. Mai 2024 @ 12:24
Sehr erhellend dazu ist das aktuelle Interview mit Michael von der Schulenburg. Als langjähriger UN Diplomat legt er den Finger in die Wunde und sagt sehr klar, was aktuell schief läuft.
https://youtu.be/dSpDcUFmUM8?feature=shared
Karl
11. Mai 2024 @ 08:49
In ihrer Turbo-Karriere ist die Bildungsministerin aus einem reichen Taunus-Dorf so schnell gerast, dass sie wahrscheinlich gar nichts von der Uni mitbekommen hat. Wenige Semester Aufenthalt in den nächstgelegenen Unis reichten ihr zum Diplom, zwischen der katholischen Mädchen-Privatschule (Ursulinen) und dem Vorstands-Trainee bei der Frankfurter Privatbank (Oddo BHF). Danach privater Aufenthalt in London, wo sie auch ihr Kind bekam. Stark-Watzinger hat von öffentlichen Einrichtungen wie z. B. einer Uni schlicht keine Ahnung und falls sie von ihnen doch einmal gestört wird, zeigt sie sich “fassungslos”.