Die EU als Sündenbock

Verantwortungslos durch die Krise: Wenn wenig Kompetenz die EU mal wieder zum Sündenbock macht – Ein Gastbeitrag.

Von Bernd Hüttemann*

Zwei Wochen Krisenmodus. Ein Modus, der unsere Leben auf die eigenen vier Wände reduziert, uns nur medial und virtuell die Welt erfahren lässt. Es sind aber auch zwei Wochen massiver Kritik an der Europäischen Union und ihrem Handlungsversäumnis.

Und stimmt es nicht auch? Wo ist „Europa“, wenn man es braucht? Willkürliche Grenzen werden hochgezogen. Menschen dürfen nicht mehr im Grenzort arbeiten, andere werden hingegen heimgeholt, um Mitbürger anzustecken, obwohl sie besser in Urlaubsquarantäne geblieben wären. Schutzmasken-Merkantilismus wird propagiert, obwohl Lieferketten für den Gesundheitsschutz funktionieren müssen. In Ungarn wird gar die Gewaltenteilung abgeschafft (aber dafür war Corona wohl nur ein willkommener Anlass). Die Nation soll uns frei nach dem Sankt-Florians-Prinzip retten: „Heiliger St. Florian / Verschon‘ mein Haus zünd‘ and’re an!“.

Es ist aber auch die Stunde der Schlaumeier, der Think-Tanker und Publizisten, die leichtes Spiel haben zu beschreiben, was nicht läuft in Europa. Wohlgemerkt: was nicht läuft in einer der größten Pandemien der Menschheit. 

Und so sind alle wieder da! Zunächst natürlich die nationalistischen Europahasser, die autoritäre Phantasien ausleben möchten. Es melden sich aber auch die gutmeinenden enttäuschten Europaromantiker, die erst jetzt merken, dass die EU schlicht wenig Kompetenz in einer grenzüberschreitenden Gesundheitskrise hat.

Und es gibt die Technokraten-Liebhaber, die nun die „Stunde der Exekutive“ (FAZ) ausrufen. Sie propagieren ein bloß technisches Europa, das höchstens wie eine Behörde funktionieren soll und nicht wie ein demokratisches Gemeinwesen. Die Staatskanzleien werden es schon richten. 

Kein Grund zur Schadenfreude

Dass Europa wenig handlungsfähig ist, ist so offensichtlich wie kein Grund zur Schadenfreude. Ausgerechnet die, die in wichtigen Grenzen überschreitenden Fragen der EU keine Kompetenz zusprechen wollen, werfen ihr heute Handlungsunfähigkeit vor.

Die Europäische Union hält sich an geltendes Recht. Der Handlungsspielraum ihrer Institutionen, allen Voran der Kommission, ist begrenzt. Ausgerechnet in der Corona-Krise wird deutlich, dass die Nationalstaaten, auch die deutschen Länder, es partout nicht wollten, dass die EU grenzüberschreitend agieren darf. Grenzüberschreitender Katastrophenschutz und Gesundheitsschutz ist bewusst verhindert worden. Die Möglichkeit einer europäischen Krisenbewältigung durch Artikel 222 (AEUV), der bei „schwerwiegenden grenzüberschreitenden Gesundheitsbedrohungen“ aktiviert werden kann, wurde einfach ignoriert. 

Die „Behörde“ Kommission hat viel versäumt und ihre Präsidentin hat erst letzte Woche den Mitgliedstaaten die Leviten gelesen. Das Junckersche “Das ist nicht das Europa, in dem ich leben will“ hätte weit früher kommen müssen. 

Aber eine solche politische Instanz wollten und wollen die Staats- und Regierungschefs nicht. Ihr Europäischer Rat ist nicht teuer, sondern billig. Und das Europaparlament? Was wäre das ein starkes Zeichen: die vier größten demokratischen EP-Fraktionen hinter der Kommissionspräsidentin, um in ihren Heimatländern und vor der europäischen Öffentlichkeit Probleme zu benennen und die verantwortlichen Nationalstaaten gemeinsam auf Spur zu bringen.

Aber weder der Europäische Rat noch von der Leyen selbst wollten eine tragfähige parlamentarische Koalition und das (schließlich von uns breit gewählte) Parlament hat sich bis in die Krise hinein auseinanderdividieren lassen. 

Merkel verlor kein Wort über europäische Lösungen

Aber noch mehr machen die staatlichen und substaatlichen Exekutiven keine gute Figur. Es passt zum Bild der allfähigen ausführenden Gewalt, dass Pressekonferenzen von Bundes- und Landesregierungen regelmäßig den Eindruck vermitteln, dass man alles selbst im Griff habe, dass offene Grenzen gar den Menschen schaden. So wundert es kaum, dass Merkels Fernsehansprache nicht ein Wort über europäische Lösungen verlor. 

In der Not richten sich die Staatskanzleien gerne in den eigenen Kommunikationsblasen ein. Teil des Problems: Brüsseler und Berliner Hauptstadtkorrespondenten stehen im Wettstreit mit den Hauptredaktionen in Hamburg, Köln, Mainz, München, Frankfurt usw. Manch einem Brüsseler Korrespondenten bleibt da nur, die offensichtlichen Probleme in der EU zu dramatisieren, um überhaupt noch wahrgenommen zu werden.

Es wäre eine schöne Idee, wenn Brüsseler und Berliner Stimmen stets das ganze Bild im Blick hätten. Kaum jemand in Berlin kann sich vorstellen, wie wenig Macht Brüssel hat. Kaum jemand kann sich in Brüssel vorstellen, wie wenig europäische Empathie und Koordination in Berlin herrschen. 

Aber Blasenschwächen und Kompetenzmissverständnisse sind nicht so gefährlich wie das Herbeischreiben der vermeintlichen Handlungsfähigkeit von Diktaturen und autoritären Regimen. Hier geben sich nationalistische Europahasser und technokratische Demokratieskeptiker die Klinke in die Hand. 

Der Glaube, dass autoritäre Regime und unkontrollierte Exekutiven die Krise besser in den Griff bekommen, ist so falsch wie gefährlich für unsere vernetzte pluralistische Gesellschaft. 

Corona-Hilfe aus China, Russland und Kuba wurden als Spende hochgespielt und sind zum Teil gar Fake, um autoritäres Handeln als effizient hochzujubeln. Dass Demokratien ohne entsprechenden Propagandaapparat leistungsfähiger sind, wird gerne unterschlagen.

Aber sind nicht in Wirklichkeit flexible Solidarität und Verantwortungen gefragt? Ein Mehrebenensystem verteilt Verantwortung horizontal, repräsentative Demokratie auf viele Schultern. Auch die Opposition trägt ihren Teil zum besseren Regieren bei. Opposition ist nicht Mist. Sie wird vermisst beim Durchregieren.  Entscheidend ist, dass Verantwortung klar ist, aktuelle und grundsätzliche Probleme erkannt und benannt werden.   

Die von Bund, Ländern und deutschen Krankenhäusern organisierten Transporte von Schwerstkranken, etwa aus der Lombardei sind mehr als nur hoffnungsvolle Bilder – sie retten Leben. Aber sind das nicht selbstverständliche Nachbarschaftshilfen? Könnte das nicht auch als gut gemeinter Aktionismus ausgelegt werden? Hilflose Versuche, europäische Solidarität heraufzubeschwören?

Nur die Kommission kann den Überblick behalten

Es ist nicht klar, wie stark die Hilfe insgesamt ausfällt. So gut Flexibilität ist, jemand in Europa muss den Überblick behalten und das kann nur die Kommission sein. 

Die Europäische Kommission ist endlich dabei, einen Überblick über vorhandenes Personal, Material, Produktionspotenzial und Logistik zur Bekämpfung von Pandemien zu bekommen. Sie agiert proaktiv und benennt nationale Defizite und Egoismen. Dabei muss sie wieder den Eindruck vermitteln, dass sie nun alles regeln kann. Die Menschen müssen konkret erfahren, was sie wissen: dass europäische Probleme nur mit europäischen Kompetenzen gelöst werden können. Und, dass es ohne Kompetenzen keine Verantwortung gibt.  

Europa hat vorgeführt bekommen, wie nationale Alleingänge, unkoordinierte Maßnahmen und halbherzige Solidaritätsmanifestationen die Ausbreitung des Coronavirus nicht stoppen konnten. Der Kommission sind vielfach die Hände gebunden und wird trotzdem mit der gesamten EU zum Sündenbock.

Mittelfristig ist die Krise nicht durch ad hoc-Maßnahmen zu überwinden. Wo gemeinschaftliches Handeln nicht erzwungen werden kann, können neue Kompetenzen geschaffen werden.  Der europäische Gesetzgeber, inklusive Mitgliedstaaten, muss alle notwendigen Schritte unternehmen, dass eine kommende Pandemie frühzeitig erkannt und gemeinsam bekämpft werden kann. 

Dafür braucht es eine verantwortliche Strategie, wie solidarisches Handeln durch die demokratischen Kräfte auf allen Ebenen, unter enger Mitwirkung von Gesellschaft und Wirtschaft, effektiv gestaltbar ist. 

Statt 27 verschiedenen braucht es einen europäischen Entscheidungsreflex, der wiederum zielgerichtete regionale Reflexe bewirkt und verbindet. Hierfür gibt es jetzt schon genügend Vorschläge. Einer davon schlägt vor, dass die Europäische Kommission unter der demokratischen Kontrolle vom Europäischen Parlament und dem Europäischen Rat über verbindliche und zentrale Regeln für Tests, die Verteilung von Schutzmaterial und Medikamenten bestimmen können muss.

Für ein autonomes Krisenzentrum

Das zuständige Krisenzentrum der Kommission sollte nicht länger am Tropf der Mitgliedstaaten hängen, wenn es um Informationsbeschaffung und Ressourcen in der Krisenkoordination geht. Es wäre durchaus sinnvoll, die EU mit eigenem medizinischem Material auszustatten, um im Krisenfall nicht auf die Kooperationsbereitschaft ihrer Mitgliedstaaten angewiesen zu sein. 

Neben einer gestärkten Kompetenz, inklusive eigener Ressourcen, in der Krisenkoordination muss ein souveränes Europa die Außengrenzen so schützen können, dass die lebenserhaltende Freizügigkeit im Inneren geschützt wird. 

Im Umkehrschluss bedeutet das: für europaweite Probleme muss die EU verantwortlich gemacht werden, wenn sie denn die Verantwortung hat. Für eine vernünftige der Gesundheit der Menschen dienliche Europapolitik sind nun die Mitgliedstaaten am Zuge. Nehmen wir sie und die Bundesregierung in die Verantwortung.  

*Bernd Hüttemann ist Generalsekretär der Europäischen Bewegung Deutschland e.V. Er lehrt u.a. an der Universität Passau. 

Siehe auch den Beschluss der EBD vom 27. März 2020: Mehr europäische Solidarität zur Bewältigung der Corona-Pandemie. 

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