Deutsches Europa
Zum 50. Jahrestag des Elysée-Vertrages gibt es nicht viel zu feiern. Kanzlerin Merkel und Präsident Hollande gehen sich zwar nicht mehr aus dem Weg. Doch große gemeinsame Initiativen sucht man vergebens. Wenn nicht alles täuscht, markiert das Jubiläum vor allem eins: die Entstehung eines deutschen Europas.
Schon die Ortswahl ist bezeichnend: der Elysée-Vertrag wird diesmal nicht an seinem Ursprungsort Paris gefeiert, sondern in Berlin, der heimlichen neuen EU-Hauptstadt. Vor zehn Jahren, beim letzten Jubiläum, war das noch anders.
Damals traf man sich noch im Elysée-Palast, feierte die deutsch-französische Entente im Irakkrieg (Berlin und Paris standen gemeinsam gegen London und Washington) und stimmte sich auch wirtschaftspolitisch eng ab.
Berlin hat in Paris abgekupfert
In der EU gab Paris damals noch den Ton an. Deutschland war der “kranke Mann Europas”, Frankreich war in vieler Hinsicht ein Vorbild, das Altkanzler Schröder eifrig kopierte: von den Eliteunis über die Industriepolitik bis hin zur Zentralisierung der Macht (im Kanzerlamt) kupferte er vieles in Paris ab.
Gleichzeitig machte er sich über die 35-Stunden-Woche lustig – und sorgte mit seiner ungeliebten Agenda-Politik dafür, die deutschen Löhne unter das (damals noch günstigere) französische Niveau zu drücken.
Und heute? Ist Merkels Kanzleramt die (un-)heimliche Schaltzentrale Europas, reist die Bundesregierung in Kompaniestärke nach China, um Flugzeuge zu verkaufen, gilt Deutschland als Vorbild. Und Paris hat das Nachsehen.
Ausgeprägter Merkiavellismus
Jahrzehntelang drückte Frankreich der EU seinen Stempel auf, nun haben wir ein “deutsches Europa”. Es entstand keineswegs nur durch Abwarten, Aussitzen und eine gehörige Portion “Merkiavellismus”, wie der Soziologe U. Beck meint.
Nein, es ist eine Folge strategischer Entscheidungen – in vielen Bereichen hat Berlin von Paris gelernt und die Franzosen mit ihren eigenen Mitteln geschlagen. Und Merkel nutzt nun die Eurokrise, um ihre eigene, nationale Agenda durchzusetzen.
Ch. Bertram, Ex-Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik, hat das treffend so zusammengefasst (zitiert nach “IP”):
„Diese Bundesregierung hat von Anbeginn der Krise immer nur national, nicht aber europäisch gedacht. Ihre Sorge war stets in erster Linie, Gefahren vom deutschen Wohlstand abzuwehren, nicht vom Wohlergehen Europas. Das Gold der Bundesbank liegt ihr mehr am Herzen als die Zukunft der EU.“
Klar, auch Paris verfolgt nationale Interessen. Doch Frankreich braucht Deutschland und Europa. Diese Bundesregierung hingegen verhält sich so, als brauche sie Frankreich und (Süd-)Europa nicht. Das ist der zentrale Unterschied.
Auf Dauer wird dies allerdings nicht gutgehen. Ich sehe derzeit drei Hauptprobleme für eine hegemoniale Strategie:
- Die Bürger machen nicht mit. Die meisten Deutschen wollen gar kein “deutsches Europa”, weil sie es nach Wiedervereinigung und Agendapolitik als Überforderung empfinden (Stichwort “Zahlmeister”).
- Die Wirtschaft koppelt sich zunehmend von Europa ab. Die großen Konzerne sehen die EU nur noch als Freihandelszone, am liebsten würden sie sich aller Verpflichtungen entledigen (siehe die Debatte über Emissionsrechte).
- Die schwarzgelbe Bundesregierung ist nicht willens und in der Lage, die mit der neuen Rolle geforderte “Führung” zu leisten. Derzeit schafft sie es nicht einmal, ihre EU-Politik zu erklären – wann hat es Merkel zum letzten Mal versucht?
Zudem misst Berlin mit zweierlei Maß. Für Deutschland gibt es immer wieder Ausnahmen (siehe z.B. den exorbitanten Exportüberschuss, die Sonderregeln für Sparkassen in der Bankenaufsicht, die goldene Aktie bei VW), während man in Brüssel eine strikte Ordnungspolitik predigt.
Dies stößt auf – berechtigten – Widerspruch in Paris. Ob es am Ende doch wieder auf Frankreich zuläuft, ist allerdings völlig offen. Vielleicht geht Merkel nach der Wahl auf Hollande zu und lockert den Sparkurs (siehe “Wie die Krise enden kann”). Vielleicht steigt sie auch in eine gemeinsame Haftung ein, wie dies D. Cohn-Bendit glaubt – und viele Berufseuropäer aus Brüssel.
Teile und herrsche
Genauso gut ist aber denkbar, dass sich Berlin mit London und Warschau verbündet – oder eine Politik des “Teile und herrsche” versucht. In der Eurogruppe hat dies ja schon begonnen: dort regiert Berlin gemeinsam mit Den Haag und Helsinki gegen den Rest der Welt, neuerdings sogar gegen den IWF.
Einzige Legitimation: das Triple-A der US-Ratingagenturen. An dem Tag, da Frankreich die Bestnote verlor (ironischerweise wegen des Merkel’schen Fiskalpaktes), war es außen vor.
Das “deutsche Europa” ist auch, wenn nicht vor allem ein Europa der Märkte. Es ist so ziemlich genau das Gegenteil von dem, was Frankreich will. Ich bin mir daher nicht mal sicher, ob man den 60. Jahrestag des Elysée-Vertrags noch feiern wird…
Siehe zu diesem Thema auch die aufschlussreiche Blogrevue auf presseurop: “Ein prachtvoller Ball der Scheinheiligen”
marty
24. Januar 2013 @ 03:19
@melina: Wow, klare Kante! 😉 Im Prinzip stimme ich Dir völlig zu − wobei ich sogar noch weiter gehen würde. Ich fürchte, wir müssen partiell auch den völlig entarteten Binnenmarkt zurückdrehen.
Natürlich war das damals gut gemeint − aber wozu hat es geführt? Der LKW-Verkehr hat dramatisch zugenommen und wird das wohl auch weiterhin tun (um erschreckende 84 Prozent bis 2025 (Prognose 2008) − http://www.allianz-pro-schiene.de/presse/pressemitteilungen/2008/2008-1/ ). Das ist (drastisch formuliert) nichts anderes als Terror gegen Umwelt und Bevölkerung …
Ganz egal, um welches Politikfeld es geht, der Binnenmarkt hat immer Vorrang. Sein Stellenwert im Gefüge der EU entspricht praktisch dem unseres Artikels 1 GG (“Die Würde des Menschen ist unantastbar”). Der Binnenmarkt ist die oberste Maxime, der sich alles andere unterzuordnen hat. Und hat irgendein Mitgliedsland eine drollige kleine Eigenheit, die den Fanatikern im Brüsseler Polit-Büro nicht passt, wird einfach die gute alte Binnenmarkt-Keule rausgeholt und das unbotmäßige Land damit zur Räson gebracht.
Stellenweise hat der Binnenmarkt beinahe faschistoide Züge angenommen − ein banales, aber treffendes Beispiel: die Typen im Brüsseler Bunker haben uns de facto den Begriff “Marmelade” verboten! Doch unsere österreichischen Brüder, für die das Wort “Konfitüre” (wie auch für mich) ein akustischer Affront war, dürfen es gnädigerweise seit kurzem wieder verwenden (http://www.focus.de/politik/ausland/oesterreich-atmet-auf_aid_81740.html ). −
Das Problem bei der EU-“Systemwiederherstellung” (tolle Metapher!): wie kann das in der Praxis klappen? Wenn Menschen ihre Beziehung von “Freundschaft” zu “Liebesbeziehung” vertiefen, ist es auch nicht immer möglich, wieder nahtlos-linear zum früheren Status zurückzuwechseln …
Natürlich hat auch ebo recht − die Abwicklung der Währungsunion würde schreckliche Verwerfungen mit sich bringen. Aber die haben wir ja jetzt auch − PLUS die Zerstörung und Deindustrialisierung Südeuropas …
Da wäre eine regulierte Euro-Abwicklung auf jeden Fall das kleinere Übel! −
Was die potentielle Überlebensfähigkeit kleiner Nussschalen auf hoher See angeht, muss ich Dir zumindest partiell recht geben − nimm z.B. Dänemark oder Tschechien. Die Jungs haben auch ihre ökonomischen Probleme, werden aber von “den Märkten” weitestgehend ignoriert (oder übersehen?). −
Zum Schluss noch ein idealistischer Wunsch (oder Tagtraum?) zu ebo’s obigem Haupt-Thema: eigentlich müsste JEDER deutsche Schüler zumindest ein bisschen Französisch lernen. Immerhin ist Frankreich in kultureller Hinsicht unser Mutterland. Merci maman!
Johannes
23. Januar 2013 @ 19:30
“Einzige Legitimation: das Triple-A der US-Ratingagenturen. An dem Tag, da Frankreich die Bestnote verlor …”
Ich nehme an den Mali Krieg, der sehr lange dauern wird, bekommt Frankreich vom lieben Gott geschenkt, so wie Amerika den Iraq-Krieg umsonst bekam, oder steigen jetzt etwa die Schulden von Frankreich massiv an???
ebo
23. Januar 2013 @ 20:28
Den Krieg finanziert FR aus seinem Verteidigungsbudget, das prozentual deutlich höher ist als das Deutschlands. FR gehört zu den wenigen Nato-Staaten, die den Vorgaben nachkommen, was das betrifft. Im übrigen hat Merkel ihren “Freund” Sarkozy an dem Tag aus dem engsten Zirkel der Eurogruppe rausgeworfen, als dieser den Fiskalpakt durchgedrückt hatte. Denn für den Fiskalpakt wurde FR mit einem Downgrading “belohnt”, D komischerweise nicht. C’est la vie?
melina
23. Januar 2013 @ 14:44
@marty,
Ein Neuanfang unter Zerschlagung der gegenwärtigen Strukturen wäre dringend geboten und sogar machbar, ohne dabei die europäische Idee aufgeben zu müssen.
Ginge es nach meinen tagträumerischen Vorstellungen, dann gäbe es eine EU-Reformation (im eigentlichen Wortsinne) nach folgendem Muster:
– Auflösung der Euro-Zone und Rückkehr zu nationalen Währungen
– Aufkündigung aller Verträge, ebenso ESM, Fiskalpakt etc. und Wiederherstellung
der vollen Haushalts-Souveränitat der betroffenen Länder. Also auch die de facto- Abschaffung der Austeritätspolitik.
– Abschaffung aller demokratisch nicht legitimierten EU-Institutionen, wie z.B. die
EU-Kommisision, EZB etc.
– Beibehaltung des europäischen Binnenmarktes einschließlich Reisefreiheit, Zollfreiheit und Niederlassungsfreiheit. Eine einzige kleine und überschaubare gemeinsame Behörde zur Regulierung des Binnenmarktes würde genügen.
Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen. Zusammengefasst meine ich eine System-Wiederherstellung auf einen früheren Zeitpunkt, als die EU im Sinne ihrer Gründer auf der Basis friedlicher Zusammenarbeit bestens funktionierte. Ohne Zwangsjacken und Strafexpeditionen einer peitschenschwingenden Walküre und eines vor Hass rasenden alten Mannes im Rollstuhl.
Um auf dein anschauliches Bild mit der Nussschale im Taifun einzugehen: in schwerer See hat ein flexibler Verband von Nussschalen sicher bessere Chancen als ein schwerfälliges Floss, das schon von ein paar verrutschten Fässern in die Tiefe gerissen werden kann. Die derzeitige EU bietet den Spekulanten und Raubrittern eine einzige, riesige Angriffsfläche und macht es ihnen strategisch leicht. Ein gleichzeitiger Angriff auf eine ganze Reihe unterschiedlicher Nationalstaaten dürfte sich wesentlich schwieriger gestalten, wenn jeder Staat seine Währung den Gegebenheiten durch Ab-oder Aufwertung anpassen kann.
Der Kern der neoliberalen Doktrin ist nun mal die Abschaffung des Sozialstaates und eine in Südamerika erprobte und bewährte Methode ist es, Staaten gezielt bis über die Grenze der Tragfähigkeit hinaus zu verschulden, um sie dann unter Kuratel der Gläubiger zu stellen und zu entmachten. Genau dies geschieht derzeit in Europa mit den Ländern des Südens und wird irgendwann auch auf die Nordländer übergreifen.
Die internationale Finanzmafia und ihre politischen Erfüllungsgehilfen werden diese
erfolgreiche Art der Geldvermehrung niemals freiwillig aufgeben, im Gegenteil, sie werden sie mit Klauen und Zähnen verteidigen. Allen voran TINA M., die strebsamste unter ihnen. Die einzige Möglichkeit, dem Spuk eine Ende zu machen, besteht m.E. in dem oben genannten Reset.
Es ist mir völlig klar, dass die Auflösung bzw. Rückabwicklung der EU vor allem in rechtspopulistischen und rechtsextremen Kreisen gefordert wird, wenn auch aus völlig anderen Motiven. Aus meiner linken Position heraus wäre dieses Reset auch die einzige Chance, noch bestehende Sozialmodelle nicht nur zu retten, sondern wieder echte Sozialdemokratien entstehen zu lassen.
Wenn die neoliberale Eiterbeule den ganzen europäischen Organismus zu vergiften droht und die Leichenfledderer schon Schlange stehen, dann bleibt eben nur ein beherzter und schneller Schnitt. Der Patient wird rasch gesunden und wieder auf die Füße kommen, auch wenn es derer 27 sind!
ebo
23. Januar 2013 @ 18:19
Die Rückkehr zu nationalen Währungen wäre mit massiven Abwertungen und Wohlstandsverlusten verbunden, übrigens auch in Deutschland. Nach Camerons Rede zeichnet sich ein anderes Szenario ab: Entweder wird die EU noch stärker auf die neoliberale Agenda ausgerichtet, und UK und D gehen ein Bündnis ein. Oder UK geht raus, dann dürften auch Schweden, Dänemark und die Niederlande nach und nach abfallen. So oder so keine schönen Aussichten…
marty
23. Januar 2013 @ 03:47
@melina: Keine Sorge, Deine Analyse ist keineswegs zu pathetisch, sondern absolut überzeugend und eloquent.
Ja, die EU ist zu einem neoliberalen Monster degeneriert, zu einem hässlichen Minotauros (oder Merkatosaurus?), dem ständig unschuldige Länder geopfert werden müssen.
Ich teile Deinen Abscheu − aber ist die Zerschlagung der EU wirklich die Lösung?
Die Geschichte lehrt, dass bestehende Strukturen, wenn sie einmal zerschlagen sind, oft nicht mehr repariert werden können. Nimm z.B. Südamerika, wo wir vor 500 Jahren die dortigen Strukturen “brutalstmöglich” zerstört haben. Bis heute (also ein halbes Jahrtausend später !!!) hat sich Südamerika davon nicht erholt. Das ist sicherlich ein extremes Beispiel − aber wir stehen ja auch vor extremen Herausforderungen.
Für sich genommen sind die europäischen Länder doch kleine Nussschalen auf dem Ozean − wie sollen sie den heraufziehenden asiatischen Taifun überstehen?
Sollten wir unsere Flöße bei diesem Wellengang nicht doch lieber zusammenbinden?
Oder sollen wir nochmal ganz von vorn anfangen − mit einer komplett neuen (und “undeutschen”) EU? Schließlich hat das mit der Weltgemeinschaft auch nicht auf Anhieb geklappt (vgl. das jämmerliche Scheitern des Völkerbunds). Erst im 2. Anlauf konnte die (zumindest ein bisschen weniger jämmerliche) UNO entstehen.
ebo
22. Januar 2013 @ 20:59
Ach, Johannes. Das “deutsche Europa” stammt nicht von mir, sondern aus der Fachdebatte – siehe Beck, IP etc. Wir haben gar keine Schulden übernommen, sondern Kredite vergeben. Das heißt, halb Europa steht “bei uns” in der Kreide. Auch dies macht Deutschlands aktuelle Macht aus – wer zahlt, schafft an, oder?
melina
22. Januar 2013 @ 15:32
Stimmt, Ebo, es gibt nicht viel zu feiern. Besser gesagt: es gibt gar nichts zu feiern.
Der Jahrestag ist nichts weiter als das Abarbeiten eines diplomatischen Protokolls, garniert mit ein wenig PR. Weder in Frankreich, noch sonst wo in der EU, hat jemand Grund, die Germanisierung Europas freudig zu begrüßen.
Nie waren die Gräben zwischen den Ländern so tief wie heute, nie sind so viele Bürgerrechte einer mit Macht heraufziehenden Finanzdiktatur geopfert worden wie in den letzten Jahren, nie wurde so offensiv und ungeniert geplant, die europäischen Demokratien mit ihren Sozialmodellen zu Fall zu bringen wie jetzt. Und nie war die Gefahr größer, dass es einer kleinen markthörigen Clique unter Führung einer vom Machtwahn geblendeten Frau M. gelingen könnte, ihre Strategie der Massenverelendung tatsächlich zu realisieren. Darüber können auch ein paar zähneknirschend verteilte bisous und offizielle Artigkeiten nicht hinweg täuschen.
Wer wissen will, wie es mit Europa weitergehen soll, braucht nur nach Griechenland, Spanien oder Portugal zu blicken. Dort findet er das Europa von morgen bereits im großen Feldversuch.
Bleibt nur zu hoffen, dass es keinen 60. Jahrestag geben wird, dass das Monster EU vorher zerschlagen wird. Denn nur die Zerstörung dieses Monsters kann die europäischen Völker langfristig retten und die Rückkehr zu einem friedlichen Zusammenleben garantieren. Egal, was Frau M. dazu sagt, denn ihre Beschwörungsformeln sind der blanke Hohn und wirken wie Salzsäure, die in die offenen Wunden der Opfer ihrer barbarischen Politik gekippt wird. Das mag pathetisch klingen, aber es ist so.