Der Weg der EU in den Krieg (3): Aggression und Zeitenwende

Am 9. Dezember 2012 bekam die EU den Friedensnobelpreis. Knapp elf Jahre später unterstützt sie die Ukraine im Krieg gegen Russland. Wie konnte es dazu kommen? Was waren die wichtigsten Wendepunkte? Ein kritischer Rückblick in zehn Folgen. – Teil 3: Die russische Agression und die deutsche Zeitenwende.

Repost vom 28. Februar 2022

Wir erleben einen Paradigmenwechsel“, erklärt von der Leyens Chefsprecher Eric Mamer kurz nach der “nicht provozierten und ungerechtfertigten russischen Aggression”, wie man die Invasion in die Ukraine in Brüssel nennt. „Europa verteidigt die Ukraine, wir stehen an Ihrer Seite“, beteuert er auf Englisch und Ukrainisch. „Man sollte nicht zu oft von historischen Entscheidungen sprechen“, meint der Außenbeauftragte Josep Borrell. „Aber wir haben auf eine Art und Weise reagiert, die sowohl die Europäer als auch die Russen überrascht hat.“

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Das kann man wohl sagen. Erst passierte fast gar nichts, die Außenminister beschlossen die üblichen Sanktiönchen. Dann tagte am Donnerstag (am 24. Februar) der EU-Gipfel, konnte sich aber nicht auf harte Finanzsanktionen einigen.

Doch am Wochenende (nach dem 24. Februar), ganz ohne die Staats- und Regierungschefs, dafür unter “Kontrolle” von Kommissionschefin von der Leyen, fielen alle Tabus.

Am Sonntagabend beschlossen die EU-Außenminister die Lieferung von Kriegswaffen an die Ukraine, darunter womöglich Kampfjets im Wert von 450 Millionen Euro.

Bezahlt wird das aus der neuen “Friedensfazilität”, die jenseits des EU-Budgets geschaffen wurde – also ohne parlamentarische Kontrolle.

Gleichzeitig kündigte von der Leyen an, die russischen Sender RT und Sputnik zu sperren. Dafür ist sie zwar gar nicht zuständig – doch versuchen will sie es trotzdem, etwa durch Druck auf YouTube.

Außerdem will man den russischen Finanzsektor ruinieren, die Oligarchen bestrafen, den Luftraum sperren usw. usf. Noch nie sei die EU so einig und so solidarisch gewesen, heißt es selbstbewußt in Brüssel.

Die Bedeutung der Zeitenwende

Doch wie ist es dazu gekommen? Möglich wurde der “Paradigmenwechsel” offenbar erst nach der “Zeitenwende” in Berlin. Kanzler Scholz stand unter extremen Druck aus den USA, der Ukraine, Polen und Frankreich, das den EU-Vorsitz hat.

Ich würde nicht ausschließen, dass Scholz seinerseits mit Sanktionen bedroht wurde, bevor er seine “historische” Entscheidung traf. Die USA haben damit Erfahrung, US-Präsident Biden hat ihn ja sogar auf seiner Pressekonferenz vorgeführt.

Doch die vermutlich nicht ganz freiwillige deutsche Wende erklärt nicht alles. Wieso spielten bei den wirklichen Kracher-Entscheidungen vom Sonntag die Staats- und Regierungschefs keine Rolle? Warum gab es keinen zweiten EU-Gipfel?

Parallele Strukturen in Brüssel

Offenbar haben sich neue, parallele Strukturen herausgebildet, jenseits der üblichen EU-Verfahren.

Von der Leyen scheint dabei eine zentrale Rolle zu spielen. Sie spricht alles mit US-Präsident Biden ab, der am Montag schon wieder einen “Kriegsrat” mit ausgewählten EU-Chefs (darunter Scholz) einberief.

Polens Ministerpräsident Morawiecki ist auch nicht zu unterschätzen. Noch vor kurzem stand er in Brüssel am Pranger wegen seines (Un-)Rechtsstaats, nun bewegt er Berlin zur “historischen” Kurskorrektur.

Die größte Hebelwirkung hat aber offenbar der (von den USA unterstützte) ukrainische Präsident Selenskyj. Seit Kriegsbeginn wird Selenskyj in Brüssel wie ein Freund in Not behandelt, dem man keinen Wunsch ausschlagen kann.

Die Ukraine bekommt alles, was sie braucht – nun also auch Kriegswaffen. Bleibt zu hoffen, dass die neue Kampfbereitschaft der EU nicht zu einer direkten Konfrontation mit Russland führt…

Dies war unser Fazit am 28. Februar 2022. Es gilt auch noch heute, ein Jahr später…