Scheingefechte um Spitzenkandidaten
Das Europaparlament besteht darauf, nur einen der „ihren“, also einen Spitzenkandidaten, zum Chef der EU-Kommission zu wählen. Das klingt nach einer klaren, demokratischen Haltung – doch das täuscht.
Und zwar gleich aus mehreren Gründen. So ist nicht einmal geklärt, was ein/e Spitzenkandidat/in eigentlich ist. Gilt Margrethe Vestager als solche – obwohl ihre liberale Bewegung das Konzept ablehnt? Die Grünen sagen Ja, andere sagen Nein – eine klare Definition gibt es nicht.
Zum anderen wollen diesmal gleich drei „Spitzen“ den Kommissionschef Jean-Claude Juncker beerben: Manfred Weber, Vestager und Frans Timmermans. Das ist eine völlig andere Lage als 2014, als sich die Sozialdemokraten hinter den Wahlsieger Juncker gestellt haben.
Nun fordern die Sozis die konservative EVP und Weber heraus. Die EVP hingegen meint, als stärkste Fraktion komme ihr das Vorschlagsrecht zu. Sie hat ohne die Genossen jedoch keine Mehrheit. Der Streit geht so weit, dass Weber sogar das Recht bestritten wird, einzuladen!
Das Europaparlament täuscht also nur eine Einheit vor – es muß sich erst einmal selbst sortieren. Was eine gute Sache ist: denn zum ersten Mal muß um eine Mehrheit gerungen werden. Und zum ersten Mal könnten dabei die Inhalte im Vordergrund stehen, nicht Personen.
Die Sache ist aber noch komplizierter. Denn natürlich gibt es auch noch den Machtkampf mit dem Rat. Die Vertretung der 28 EU-Staaten hat das Vorrecht, den nächsten Kommissionschef vorzuschlagen – das Europaparlament muß ihn dann per Wahl bestätigen.
Im Rat sind die Spitzenkandidaten aber weiter höchst umstritten. So lehnen Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron und die meisten Liberalen das System ab, da es ohne europaweite Wahllisten nicht demokratisch sei. Ein wichtiger und valider Punkt – Weber konnte man nur in Bayern wählen!
Die Europawahl war ein Votum für den Wandel, nicht für die Spitzenkandidaten
Andere – wie Kanzlerin Angela Merkel – unterstützen zwar grundsätzlich das aus Deutschland importierte Wahlsystem, legen sich aber trotzdem nicht fest, um gute Posten für ihr Land herauszuschlagen. Wieder andere positionieren sich eindeutig gegen Weber, wie Portugals Premier António Costa.
Mit der Wahlentscheidung hat das alles nicht mehr viel zu tun. Die Europawahl war auch keineswegs ein Votum für die Spitzenkandidaten (das Interesse war schwach), sondern für „Change“ – Wandel, wie auch der Thinktank „European Council on Foreign Relations“ meint.
Pro-Europeans cannot be complacent. Our polling, throughout the election campaign, shows that voters want change and a reformed EU. It is now incumbent on the progressive mainstream to listen and act on these wishes.
Quelle: ECFR
Wer die Demokratie stärken will, sollte daher neue Mehrheiten im Europaparlament organisieren, die für einen echten Wandel stehen. Das Allerschlimmste wäre, wenn die Abgeordneten in die Hinterzimmer abtauchen, um die überkommenen alten Strukturen zu konservieren!
Siehe auch: „Nun zu den eigentlichen Themen, bitte!“
Schmid H.L.
29. Mai 2019 @ 15:24
„Ein Votum für Change“ – aber was für einen change? Ist dies eine reine Angelegenheit der Kommission, oder des Parlaments, oder des Rates? – Was für ein Europa, was für eine Demokratie wollen die Bürgerinnen und Bürger in ganz Europa? Wählen Sie Ihr Europa auf http://www.our-new-europe.eu
Holly01
28. Mai 2019 @ 15:50
Wenn ich das richtig verstehe, kann der Rat zusammen (mit der Komission) den Kommissionschef auch ohne Zustimmung des Parlaments ernennen.
So gesehen ist das nur heiße Luft, die sich die Herrschaften gegenseitig ins Gesicht atmen.
vlg
Peter Nemschak
29. Mai 2019 @ 08:01
Das Europäische Parlament kann den (die) vom Europäischen Rat (Staats-und Regierungschefs der Mitgliedsländer) unter nicht zwingender, aber naheliegender Bedachtnahme (!!!) auf die Mehrheitsverhältnisse im Europäischen Parlament ausgesuchten Kandidaten (in) ablehnen. Das war’s auch schon. Da ist breiter Raum für Gerangel hinter den Kulissen.
Kleopatra
29. Mai 2019 @ 08:34
Nein, das Europaparlament muss schon zustimmen, aber es kann den Rat nicht zwingen, eine bestimmte Person vorzuschlagen. Bei einem echten Konflikt zwischen beiden Institutionen könnte daher der Rat beliebig lange und oft einen ihm genehmen Kandidaten vorschlagen und warten, bis das Parlament ihn ablehnt oder akzeptiert. Da übrigens die Mitgliedstaaten, wenn sie sich einige sind, mit einem Federstrich (d.h. einer Vertragsänderung) das Parlament abschaffen könnten, sollte das letztere sich nicht wichtiger vorkommen als es wirklich ist.
Peter Nemschak
30. Mai 2019 @ 11:01
Danke für die ergänzende Klarstellung. In Österreich steht es dem Bundespräsidenten frei, eine ihm geeignet erscheinende Person als Bundeskanzler zu bestimmen mit dem Auftrag ein Kabinett zu bilden, von dem der Bundespräsident hofft, dass dieses Kabinett von einer Mehrheit im Nationalrat getragen wird und nicht unmittelbar durch einen Misstrauensantrag scheitert. Dabei ist der Bundespräsident an keine Vorschläge gebunden.
Georg Soltau
28. Mai 2019 @ 15:00
Hilfe ich begreife es mal wieder nicht : “Das Europaparlament besteht darauf, nur e i n e n der Spitzenkandidaten für die Europawahl zum nächsten Chef der EU-Kommission zu wählen.” ?? Erstens kann man keine z w e i zum Chef wählen, oder doch ?? und zweitens
wird nach meiner Information der Chef der EU-Kommission nicht vom EU Parlament gewählt, sondern vom Europäischem Rat ernannt bzw. vorgeschlagen und den darf das Parlament dann abnicken oder ablehnen….oder wie oder was ??
ebo
28. Mai 2019 @ 15:16
Richtig, die EU-Chefs (der Rat) schlagen vor, das Europaparlament nickt ab (wählt).