Der Schwindel mit den Spitzenkandidaten
Die Europawahl sollte einen großen Sprung nach vorn für die Demokratie bringen – und entpuppte sich als großer Schwindel. Wie konnte es dazu kommen? – Teil 4 der Sommer-Serie: Der Schwindel mit den Spitzenkandidaten.
Teil 3 der Serie steht hier
Als 2014 zum ersten Mal ein Spitzenkandidat die Europawahl gewann – Jean-Claude Juncker – war die Sache noch einfach. Er war sich seiner Wahl im Europaparlament sicher, denn seine EVP und die Sozialdemokraten verfügten zusammen über eine absolute Mehrheit, und die Genossen stellten sich hinter ihn.
Fünf Jahre später war alles anders. Die beiden etablierten Parteien haben 2019 ihre Mehrheit verloren. Die Spitzenkandidaten waren nicht bereit, zugunsten eines anderen zurückzustehen. Und der Rat warnte: Es gebe keinen “Automatismus”, dass ein Spitzenkandidat auch Kommissionschef werde.
Deshalb war es schon sehr vermessen, wenn Manfred Weber (EVP) und Frans Timmermans (S&D) behaupteten, die Bürger könnten sie direkt in die Chefetage der EU-Kommission wählen. Noch verrückter wurde es, als das Europaparlament kurz vor der Wahl eine große TV-Show in Brüssel organisierte.
“Kandidaten für die Leitung der EU-Kommission” stand in riesigen Lettern auf der Wand, vor der Weber, Timmermans, aber auch Grüne, Linke und die liberale Margrethe Vestager ihre Positionen präsentierten. War Vestager über Nacht zur “regulären” Spitzenkandidatin geworden, reichte ein Fernsehauftritt?
Und was war mit Ska Keller, Bas Eickhout oder den beiden linken Kandidaten? Keiner von ihnen hatte die Absicht, Kommissionschef Juncker zu beerben, alle wollten lediglich um Stimmen werben. Das Motto des Abends “Kandidaten für die Leitung der EU-Kommission” traf auf sie nicht zu.
Das Europaparlament führte die Zuschauer in die Irre, die TV-Show zur Primetime war ein großer Schwindel.
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Überraschend kam das nicht. Harald Schumann von “Investigate Europe” hat herausgearbeitet, wo der Fehler liegt: Die EU-Bürger wählen das Europaparlament, aber nicht den Kommissionschef. Der Schwindel zeige, wie zweifelhaft der demokratische Gehalt der Abstimmung sei, schrieb er im “Tagesspiegel”.
Das wußten natürlich auch die Kandidaten. Sie wußten auch, dass der Rat massive Vorbehalte gegen das “System” der Spitzenkandidaten hegte und das “Prinzip” nie anerkannt hatte – Kanzlerin Angela Merkel eingeschlossen. Die Kandidaten ahnten auch, dass niemand von ihnen eine Mehrheit bekommen würde.
Doch sie wollten es nicht zugeben – nicht einmal dann, als Ratspräsident Donald Tusk nach der Wahl erklärte, keiner der Spitzenkandidaten habe eine Mehrheit im neugewählten Parlament. Spitzenkandidat Weber hielt selbst dann noch an der Illusion fest, er sei zum neuen Kommissionschef gewählt worden!
Als alles vorbei war, gab Weber eine Erklärung für sein Verhalten ab, die alles noch schlimmer machte. Er habe darauf vertraut, dass ihm der Rat zum Sieg verhilft, erklärte der CSU-Politiker. Der Rat, also Merkel & Co. – und nicht die gewählten Abgeordneten oder die Bürger!
Was für ein Schwindel…
FAZIT: Die Europawahl ist keine Direktwahl des Kommissionschefs. Und sie liefert auch keine stabilen Mehrheiten mehr. Dies hat tiefgreifende Konsequenzen für das “Prinzip” Spitzenkandidaten. Der Rat hat das verstanden, das Europaparlament muß sich erst noch ehrlich machen.
Teil 5 der Serie steht hier
Peter Nemschak
6. August 2019 @ 21:58
@Zykliker Würde die Demokratie anstehende, die Menschen berührende Probleme lösen, hätten autoritäre Alternativen keine Chance. Ein Ungarn Aufstand wie 1956 gegen die sowjetische Unterdrückung heute gegen Orban sehe ich nicht in Sicht. Warum wohl ?
zykliker
7. August 2019 @ 10:05
eine blutrünstige Diktatur wie unter Pinochet würde der Wirtschaft und somit den Menschen sicher besser bekommen als eine Demokratie mit ewigen Diskussionen, Patts und Vertagungen bis St.Nimmerlein???? Warum wohl?
Peter Nemschak
5. August 2019 @ 09:54
Die EU ist eben eine Konstruktion der besonderen Art, gemacht für einen Bund souveräner Staaten. Die Aufregung der Bürger über das was geschehen ist hat sich, wie erwartet, in Grenzen gehalten. Die Bürger beschäftigen andere Dinge als die abgehobenen intellektuellen, die ständig nach mehr Demokratie rufen. Die Bürger wollen nicht mehr Demokratie sondern eine Lösung der bekannten Probleme, die sie beschäftigen.
zykliker
5. August 2019 @ 14:37
„Wer in der Demokratie schläft, wacht in der Diktatur auf.“
http://falschzitate.blogspot.com/2018/08/wer-in-der-demokratie-schlaft-wacht-in.html
Ja, der Bürger hat andere Sorgen…. und davon mehr als genug!
Trotzdem scheint mir eine der wichtigen Aufgaben der Intellektuellen zu sein, auch über die Demokratie zu wachen, denn:
Die Probleme der Bürger zu lindern, kann zunächst auch eine Diktatur… Stalin hat mit der Industrialisierung seines Landes, Hitler mit Infrastruktur-Investitionen & Rüstung vielen Menschen Einkommen und damit Überleben ermöglicht, also deren Sorgen gelindert.
Somit könnte der Satz “ Die Bürger wollen nicht mehr Demokratie sondern…“ auch als Rechtfertigung für eine, zunächst aufgeklärt erscheinende Diktatur mißbraucht werden, auch wenn er gar nicht so gemeint war.
Rudi Ehm
6. August 2019 @ 08:25
Da passt die Intelligenz zur Zeit aber überhaupt nicht auf, bei dem was in der EU und mit dem Euro abläuft. Man deklariert es einfach als demokratisch und diskutiert leidenschaftlich darum herum. Ach ist das alles demokratisch.
Peter Nemschak
6. August 2019 @ 17:49
Die Demokratie diskreditiert sich selbst, wenn sie anstehende Probleme nicht löst. Sie darf nicht zum Selbstzweck verkommen sondern muss sich gegenüber anderen politischen Alternativen bewähren und durchsetzen.
zykliker
6. August 2019 @ 19:16
Einspruch, Euer Ehren… die Demokratie als idealer Werkzeugkasten, das menschliche Mit- und Gegeneinander zu organisieren, meinetwegen als Utopie, kann sich nicht selbst diskreditieren. Es sind immer die Menschen, die, aus welchem Grund auch immer versagen, sich übervorteilen, Macht mißbrauchen….
War es die Demokratie, die vor ca 100 Jahren den Faschismus hervorgebracht hat, oder waren es Menschen, die zum einen noch nicht genug geübt waren in dieser „Kunst,“ zum anderen noch absolutistisch geprägt und deshalb ungeduldig bis machtgierig…?
Man mag eine historische Zwangsläufigkeit sehen in der Entwicklung zu autoritären Strukturen, wenn vorher ein gewisses Maß an Politikversagen stattgefunden hat. Meiner Meinung nach hat dann aber nicht die Demokratie versagt, sondern die Politik, ggf haben die Intellektuellen „geschlafen“ und die Mißstände nicht angeprangert. Das Volk wird ohnehin von interessierter Seite sediert, also leichtes Spiel für jene, die von demokratischen Spielregeln ohnehin nicht behindert werden wollen.
Ja, wir beobachten derzeit jede Menge Politikversagen, und weder Intelligenzija noch Journaille heben die Finger; aus Trägheit und Eigennutz, manche vielleicht aus Angst, als Nazis denunziert zu werden….lieber hehaglichen Wohlstand mit Halbwahrheiten finanziert, als unabhängig, aber ständig auf der Klippe…irgendwo auch verständlich.
Wenn uns die Felle davon schwimmen, sollten wir aber nicht dem Wasser die Schuld geben.