Der “Meltdown” der liberalen Demokratien hat begonnen
In Brüssel herrscht wieder “Business as usual”. Kommissionschefin von der Leyen sammelt fleißig Stimmen für ihre Wiederwahl, die Chefs der Fraktionen im Europaparlament bereiten die konstituierende Sitzung Mitte Juli vor. Alles in bester Ordnung, könnte man meinen.
Wenn da nicht die verdammten Wahlen wählen, die (anders als die Europawahl) alles ändern können. Im United Kingdom, in Frankreich und später auch in den USA sind die Bürger zu den Urnen gerufen. Es droht nichts weniger als ein liberaler “Meltdown”.
Das klingt übertrieben? Dabei ist es nicht ‘mal von mir – sondern von Carl Bildt, dem ehemaligen Premier und erfahrenen Diplomaten aus Schweden. “It’s meltdown time. Biden last Thursday, Macron on Sunday and Sunak on Thursday next week“, schreibt Bildt auf X.
“Meltdown of the liberal democracy, self inflicted in all three cases“, habe ich ihm geantwortet. Wir erleben die “Kernschmelze” der liberalen Demokratie – und in allen drei Fällen ist sie selbst verschuldet. Kein Putin, kein Xi, keine bösen Rechten sind hier am Werk.
Nein, in London hat Sunak selbst die Wahlen vorgezogen – wohl wissend, dass Labour gewinnen wird. In Paris hat Macron von sich aus Neuwahlen angesetzt – wohl wissend, dass die Nationalisten gewinnen würden. Und in Washington hat Biden selbst entschieden, trotz Altersschwäche nochmal zu kandidieren.
In allen drei Fällen sind es “liberale” Politiker, die als Stützen des “freien Westens” galten. Nun sind sie zum Problem geworden – für das UK, die EU und die USA. Was daraus folgt, ist unklar. Sage nur niemand, der “Meltdown” wäre von irgendwelchen bösen Mächten verursacht.
Schuld ist vielmehr eine falsche Politik, die von den Bürgern nicht mehr mitgetragen wird – und die offenbar auch im “liberalen” westlichen Establishment keine Basis mehr findet…
Dieser Beitrag ist zuerst in unserem Newsletter “Watchlist Europa” erschienen. Mehr Newsletter und Abonnement per Mail hier. Siehe auch “Liberaler Meltdown: Sunak fällt als erster”
Monika
6. Juli 2024 @ 18:30
…Meltdown der liberalen Demokratien…
Was schon seit längerem down-gesized und weggemeltet wurde, ist die Sprache! Möglichst knallig-plakative Statements, die dann in den „Social media“ die Algorithmen triggern, um so die Blasenbildung anzuregen, auf dass sich möglichst viele User aufregen und sich bei 1 oder 0, schwarz oder weiss, zum show-down positionieren können…
War die geschriebene Sprache eine Folie, auf und mittels der die verschiedensten Sachverhalte möglichst präzise und möglichst unmissverständlich, rekapitulierbar mit-geteilt werden konnten, gleicht sie heute eher einer Dose Bauschaum. Irgendwas bröckelt, irgendwas rutscht, egal, die Lösung heißt Bauschaum.
Begriffe werden falsch übersetzt (false friends, wie agent, was eben nicht nur Spion bedeuten kann..) ohne Zusammenhang benutzt, unabsichtlich oder ganz bewusst missverständlich hingeworfen, den Lesern scheints auch einerlei, Hauptsache die Klickzahl stimmt für die Sender und der „Unterhaltungswert für die User…
Welche „Demokratie“ will/soll/muss denn überhaupt „gefördert“ werden, es gibt ja so viele verschiedene davon, ganz unterschiedlich in Ansatz und Wirkung, was wird unter liberal verstanden, was unter marktkonform und und und..
Nur noch wenige Texter definieren/erläutern ihre benutzten Begrifflichkeiten, damit ihre Aussagen überhaupt so nach-vollzogen werden können, wie sie gedacht waren. Das übervordere die Aufmerksamkeitsspanne der Leser. Da dürfen die Leser ruhig übervorteilt werden. Fängt ja auch mit übervor an, über ist gut, vor ist immer gut, bassd scho.
Ich möchte diesen Beitrag explizit nicht als Kritik an diesem Blog verstanden wissen, eher als traurige allgemeine Feststellung, dass der Sprachgebrauch, besonders in der Politik schon so schaumig geworden ist, dass man das Lesen lassen möchte. (Bei Nachfragen wirds dann extrem schräg, siehe beispielsweise Florian Warwegs Nachfragen in der Budespressekonferenz).
In der sehr beliebten Sendung „heiteres Beruferaten“ fragte Herr Lemke seine Kandidaten einst immer als erstes: „welches Schweinderl hätten sie denn gern“… Vielleicht sollte dieses Einfordern einer Festlegung, in welchem Sinne die jeweiligen Schlagworte in einem statement benutzt werden, zum guten Stil erhoben werden.
Skyjumper
6. Juli 2024 @ 19:22
Das ist ein ziemlich großes Fass, welches Sie da vergleichsweise gelassen aufmachen. Ich stimme Ihnen zu, dass die sprachliche Genauigkeit uns zunehmend abhanden kommt. Das betrifft auch nicht nur die Profis in Politik und Medien, sondern auch uns „Konsumenten“ bei unseren Kommentaren. Es fällt schwer den Leser angemessen mitzunehmen ohne zu ausschweifend zu werden.
Ansonsten durften/mussten Sie bestimmt in der Schule auch Ihren Orwell lesen. „Neusprech“, also durch quantitative Verwendung eines Wortes für einen neuen Sachverhalt die Deutungshoheit zu gewinnen, war bereits vor 80 Jahren bekannt. „1984“ erschien glaube ich bereits 1950. Da lassen sich diese Manipulationstechniken bereits hervorragend studieren. Also SO neu ist das gar nicht.
Michael
6. Juli 2024 @ 11:19
Die drei angeführten Beispiele für ein Scheitern der liberalen Demokratie scheitern nicht an einem Widerspruch von liberal und demokratisch sondern am Antagonismus Demokratie:Kapitalismus, letzterer als radikale Ausprägung eines liberalen (befreiten im Sinne von enthemmten) Kapitalismus. Kapitalismus bleibt per definitionem aus sich selbst heraus zum Scheitern verurteilt.
Helmut Höft
6. Juli 2024 @ 10:09
Sage nur niemand, der “Meltdown” wäre von irgendwelchen bösen Mächten verursacht.
Wie bereits mehrfach gesagt: Die Saat geht auf! Beispiel EU: Erweiterungen um jeden Preis trotz sich daraus ergebender zunehmender Dysfunktionalität. Erst die Strukturen anpassen, dann ggf. erweitern.
Beispiel D: “geistig moralische Wende”, “bester Niedriglohnsektor Europas”. Erst die Strukturen anpassen (Bildung, Ausbau des Binnenmarktes), dann sachte anpassen.
Der Blick zu den Lemmingen aller Art sollte nicht ein Maßstab sein. Beispiel Wettbewerb: Wettbewerb ist gut – Teil 3 … und was dabei rauskommt: Kollateralschaden für alle! https://www.hhoeft.de/mythos/index.php/2020/06/05/wettbewerb-ist-gut-teil-3-und-was-dabei-rauskommt-kollateralschaden-fuer-alle/
Helmut Höft
6. Juli 2024 @ 09:57
Zur Auflockerung der Stimmung (es könnte ein Politiker mit B. gemeint sein).
“Four signs that you are a very old and possibly demented man. First, you forget names, second, you forget faces, third, you forget to zip-up, forth, you forget to zip-down.”
Helmut Höft
6. Juli 2024 @ 09:43
Im United Kingdom, in Frankreich und später auch in den USA sind die Bürger zu den Urnen gerufen. Es droht nichts weniger als ein liberaler “Meltdown”.
“Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende!” (Volksmund) Und diesesmal hat sogar “der Wähler” etwas damit zu tun. (Achtung: “” als verlängerter Arm der Geschichte)
Arthur Dent
5. Juli 2024 @ 23:45
Es droht nichts weniger als ein liberaler “Meltdown”.
– Das Parlament ist die zentrale Institution des liberalen Staates. (Da hat die EU schon ein Problem und nicht erst seit heute)
Das Parlament, einst hervorgegangen aus dem Machtkampf zwischen Bürgertum und Absolutismus, sollte der Idee nach nicht den Charakter einer Gewalt haben, es sollte nicht Interessen und Wünsche, es sollte Vernunft repräsentieren. In gewaltloser Weise, mit rationalen Argumenten, in öffentlicher Diskussion sollte gemeinsam das Allgemein-Vernünftige und Nützliche ermittelt werden. So wie im freien Wettbewerb der Wirtschaft sollte aus der freien Auseinandersetzung der Meinungen das allgemein Beste entstehen.
Diese Modell des Parlamentarismus setzt voraus, dass es im Parlament keinen tieferen sozialen Gegensätze, sondern nur Meinungsverschiedenheiten gibt, die durch Diskussion zu überwinden sind.
(Spätestens mit dem im Zuge der Industrialisierung entstehenden Proletariats sollten hier Schwierigkeiten entstehen, die auf dem Boden des liberalen Modells nicht mehr lösbar waren…
Die “Schmelze” begann also schon erheblich früher.
Skyjumper
6. Juli 2024 @ 09:23
Daumen hoch.
Hier zeigt sich recht deutlich ein innerer Widerspruch auf, welcher sich im Laufe der post-feudalistischen Demokratie immer weiter verstärkte. Bei den griechischen Stadtstaaten, von denen der Begriff der „Demokratie“ entlehnt wurde, durfte (in diversen Ausprägungen) tatsächlich nur Wählen wer Steuern zahlte und militärisch zur Verteidigung beitrug.
Kurzum: Es bestimmte wer bezahlte, und daraus ergab sich zum einen ein real grundlegend gleiches Ziel, und zum anderen das nur noch über den besten Weg dahin debattiert werden musste.
Das hat mit heutiger Praxis nicht mehr viel gemeinsam, da heute tatsächlich grundlegend unterschiedliche Ziele bestehen, welche zunehmend schwieriger zu vereinbaren sind und daher zunehmend universeller formuliert werden müssen. Demokratie-Erhalt sollte z.B. kein debattiertes Ziel sein müssen. Demokratie sollte der unstrittige Rahmen sein in dem über Ziele (Minimalstufe) und die Wege dorthin (Ausbaustufe) debattiert wird.
Helmut Höft
6. Juli 2024 @ 09:47
Volltreffer!
Demokratie (von altgriechisch δημοκρατία dēmokratía Volksherrschaft) ist ein Begriff für Formen der Herrschaftsorganisation auf der Grundlage der Partizipation bzw. Teilhabe aller an der politischen Willensbildung. (WikiP)
Eine Demokratie im Wortsinn hat es noch nie gegeben (und kann es nicht geben!?). Worthülsen, Lügen & Betrug (aka Propaganda, Framing, Euphemisierung etc.) gab und gibt es ewig!
Art Vanderley
5. Juli 2024 @ 16:28
“ im “liberalen” westlichen Establishment keine Basis mehr findet…“
Hier wird „liberal“ in Anführungszeichen gesetzt und das ist wichtig.
Was uns seit jahren als liberale Demokratie verkauft wird, ist weder demokratisch noch liberal.
Ein Grundwert des Liberalismus ist daß Freiheit nicht vom Geldbeutel abhängen darf. Das stammt noch aus der Zeit der ersten demokratischen Gehversuche als Adel, Klerus, und nur ein paar reiche Bürger wählen durften, aber es bleibt ein liberaler Grundsatz und müßte immer wieder in die aktuelle Zeit übersetzt werden.
Heute würde das eigentlich bedeuten daß v.a. die FDP Sturm hätte laufen müssen gegen Hartz 4 und Co, gegen schlechte Verteilung, Lobbyismus usw….
Auch die verfassungsfeindliche Idenditätspolitik ist das glatte Gegenteil von liberal, was hier passiert ist ist eine gezielte Okkupierung des Begriffs der Freiheit um die Lufthoheit über ihn zu gewinnen, denn nur so war es möglich die Freiheit immer mehr einzuschränken.
Da muß man auch Teile der Gegenöffentlichkeit kritisieren die selbst oft dazu neigen, Liberalismus gleichzusetzen mit seiner neoliberalen und idenditären Verkürzung, und die damit deren Deutung des Begriffs ungeprüft übernehmen.
umbhaki
5. Juli 2024 @ 19:46
Art Vanderley schreibt:
„Ein Grundwert des Liberalismus ist daß Freiheit nicht vom Geldbeutel abhängen darf.“
Dem möchte ich ganz dringend widersprechen. Historisch gesehen ist das, was man den Liberalismus nennt, immer die Forderung gewesen, einer gewissen kleinen Schicht alle Freiheiten zu verschaffen – auf Kosten aller anderen.
Hierzu gibt es ein wirklich augenöffnendes Buch des großen italienischen Philosophen Domenico Losurdo: »Freiheit als Privileg«.
https://shop.papyrossa.de/Losurdo-Domenico-Freiheit-als-Privileg
(mit Link auf eine Rezension).
Anmerkung: Auf der Seite des Papyrossa-Verlags steht immer noch, Losurdo würde Philosophie an der Universität Urbino lehren. Das kann er leider nicht mehr, nachdem er 2018 starb. Aber sein Werk wirkt weiter.
Art Vanderley
8. Juli 2024 @ 20:15
@umbhaki
Diese auf Materielles und Status verkürzte Sicht ist wohl so alt wie der Liberalismus selber, es bleibt aber eine Verkürzung. Freiheit gilt für alle oder für keinen, eine Reduktion auf Bessergesetellte ist unzulässig, wird aber offensichtlich praktiziert, besonders heute wieder.
Dieser Salonliberalismus ist gefährlich und wird völlig übersehen als starker Faktor bei der inneren Zerstörung der Weimarer Republik.
Skyjumper
6. Juli 2024 @ 09:37
Hier wird der zeitliche Kontext ausser Acht gelassen. Gilt auch für @umbhaki. Der Liberalismus erstrebte eine Freiheit und Gleichheit in deutlich ursprünglicheren Sinne als es heute für viele scheinbar vorstellbar ist.
Niemanden zu gehören (Leibeigenschaft), sich frei bewegen zu dürfen, keiner persönlichen Willkür unterworfen zu sein, sich versammeln zu dürfen, seine Meinung äussern zu dürfen. Das sind alles liberale Rechte die erst einmal formuliert und erkämpft werden mußten. Gleiche Rechte hat historisch nie bedeutet das alle im Ergebnis gleich leben sollten. Das ist ein vergleichsweise junges, und keinesfalls unumstrittenes Ziel.
Art Vanderley
8. Juli 2024 @ 20:28
@Skyjumper
Zustimmung zum zweiten Absatz, gut beschrieben.
Um völlige Gleichheit geht es jedoch nicht, sondern darum daß auch der Geringste in Würde leben kann. Dabei spielt die Höhe des Einkommens eine Rolle aber auch die Rahmenbedingungen.
Bsp. Grundsicherung:
Die Praxis der Gängelung und Repression die lange praktiziert wurde, ist demütigend und sorgt bei Betroffenen für Dauerstress, viele werden sogar krank oder noch kranker.
Das Bürgergeld hat das verbessert, jetzt soll aber eine monatliche Meldepflicht für Empfänger kommen.
Arbeitslose sind keine Straftäter, die Liberalen müßten das ablehnen und nicht fordern, mal abgesehen von der Sinnhaftigkeit.
Außerdem soll das indirekt auch Arbeitnehmer unter Druck setzen.
Aber auch viele Menschen im Mittelstand müssen immer mehr tun und immer mehr faktische Freiheit aufgeben um ihren Status zu halten.
Sogar ganz oben gibt es Einschränkungen, etwa wenn Kinder in die Fußstapfen ihrer Eltern treten müssen um ihre Privelegien zu halten.
exKK
5. Juli 2024 @ 13:58
“…sind die Bürger zu den Urnen gerufen.”
So kann man die permanente und eskalierende Kriegstrommelei unserer Eliten aus Politik und Medien natürlich auch bezeichnen.