Der Fluch des deutschen Europa

Unter Ex-Kanzlerin Merkel hat Deutschland eine Führungsrolle in der EU eingenommen. In Friedenzeiten war das bequem, auch die Osteuropäer profitierten. Doch nun, im Krieg, erweist sich das “deutsche Europa” als Fluch. Kanzler Scholz soll für Merkel zahlen – und sich den USA unterordnen.

Scholz ist in die Defensive geraten. Täglich erreichen ihn Appelle, mehr für die Ukraine zu tun. Mehr Geld, mehr Sanktionen, mehr Waffen – so das Motto. Deutschland müsse vorangehen und eine “Führungsrolle” im Krieg übernehmen, heißt es sogar bei den einst pazifistischen Grünen.

Gleichzeitig wird die historische deutsche Ostpolitik einer radikalen Neubewertung unterzogen. Die Politik des Ausgleichs gegenüber Russland wird zum “Appeasement” erklärt, die Befriedungspolitik in der Ukraine durch die Minsker Abkommen rückt in die Nähe des Verrats.

Und die deutsch-russischen Ostsee-Pipelines Nord Stream 1 und 2 erscheinen plötzlich als Kriegsgründe (was sie nie waren). Ihre Protagonisten Schröder, Steinmeier und Merkel werden sogar zu Komplizen von Kremlchef Putin erklärt – und damit der historischen Verdammnis übergeben.

All dies dient ganz offensichtlich dem Ziel, Deutschland von Russland zu “entkoppeln” und den “Sieg” der Ukraine herbeizuführen. Nach den USA und der Ukraine selbst haben sich nun auch Großbritannien, Polen und Balten diesem brandgefährlichen Ziel verschrieben.

Scholz solle sich an die Spitze der Bewegung setzen und EUropa in den Krieg gegen Russland führen, fordern sie. Andernfalls drohe ein “Reputationsschaden”, der Deutschlands Rolle in der EU beschädigen werde. Doch diesem bellizistischen Narrativ liegen mehrere Fehlannahmen zugrunde.

  • Zum einen wollte Deutschland EUropa nie allein führen. Selbst auf dem Höhepunkt ihrer Macht lehnte Merkel ein “deutsches Europa” ab – aus historischen und ökonomischen Gründen. Eine deutsche Führungsrolle wäre schlicht zu teuer – die “Governance” durch Regeln à la Maastricht war viel billiger.
  • Zum anderen gibt es gute Gründe dafür, sich nicht völlig von Russland abzukoppeln. Nicht nur Deutschland, auch Italien, Österreich und Ungarn sind noch Monate, wenn nicht Jahre, auf Öl und Gas aus Russland angewiesen. Sogar die Ukraine braucht das Geld aus den russischen Gas-Durchleitungen.
  • Zum dritten wäre es falsch, auf einen “Sieg” der Ukraine zu setzen, und diesem Ziel alles unterzuordnen. Wie sollte ein solcher Sieg überhaupt aussehen, wie schnell und mit welchen Kosten ließe er sich errreichen? Die USA rechnen mit jahrelangen Kämpfen – soll Scholz dafür das Scheckbuch zücken?

Merkels Schatten lastet schwer

Wohl kaum. Deutschland kann und will nicht (allein) für diesen Krieg gerade stehen, der auch durch eine verfehlte Politik der USA ausgelöst wurde. Gerade von US-Präsident Biden gingen viele widersprüchliche Signale aus, den zentralen Fragen ist er bis zum Schluß ausgewichen.

Den Streit einfach aussitzen kann Scholz allerdings auch nicht. Schließlich hat er eine “Zeitenwende” angekündigt. Den Worten müssen Taten folgen – nicht nur in Deutschland, sondern auch in EUropa. Bisher ist kein klarer Kurs zu erkennen, Scholz hat sich noch nicht aus Merkels Schatten gelöst.

Dieser Schatten lastet schwer. In der Ära Merkel entstand der Eindruck, dass es Berlin nur um seinen eigenen wirtschaftlichen Vorteil ging – ohne Rücksicht auf Verluste etwa in Südeuropa. Die politischen Folgen, so der Eindruck im “deutschen Europa”, waren nebensächlich, es galt “Deutschland first”.

Eine “dienende Führungsrolle”?

Eine solch bigotte Haltung kann sich Scholz nicht mehr leisten, sie lastet wie ein Fluch auf seiner Regierung. Aber was wäre die Alternative? Soll Deutschland eine “dienende Führungsrolle” einnehmen, wie Vizekanzler Habeck in Washington sagte? „Je stärker Deutschland dient, umso größer ist seine Rolle“, erklärte Habeck.

Doch Deutschland ist nicht dafür gemacht, den USA im Krieg zu dienen oder die Ukraine zum Sieg zu führen. Scholz sollte versuchen, den Schaden zu begrenzen, den Krieg zu beenden und eine neue Sicherheitsordnung für Europa zu entwerfen – gemeinsam mit Frankreich, Polen und anderen EU-Ländern.

Ein waffenstarrendes “deutsches Europa 2.0” sollte er dagegen nicht anstreben. Schon im Frieden ist uns das nicht gut bekommen…

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P.S. Bemerkenswert ist, wie schnell die deutschen Medien dem bellizistischen Zeitgeist folgen. Dieselben Journalisten, die gestern noch Merkel zur “Leaderin der freien Welt” hochgejubelt haben und Steinmeier zur Wiederwahl gratulierten (“Lob des Lauen”), fallen nun über sie her. Und dieselben Zeitungen, die gestern noch Austerität und Disziplin für ganz EUropa verlangten, fordern nun eine massive Erhöhung der Rüstungsausgaben und die kostenlose Bereitstellung schwerer Waffen für die Ukraine…