Der Brexit, eine Chance?

Nach den Finanzministern haben nun auch die EU-Außenminister vor dem Brexit gewarnt. Das „Project Fear“ geht weiter – dabei könnte ein Austritt Großbritanniens sogar eine Chance für Europa sein. Ein Gastbeitrag.


Von Manuel Müller

[dropcap]I[/dropcap]m größten Teil von Europa gehört es immer noch zum guten Ton, die Zusammengehörigkeit zu betonen und auf ein Bleiben-Votum zu hoffen.

Doch je näher das Referendum rückt, desto mehr pro-europäische Stimmen werden laut, die einen Abschied der Briten als eine für die EU durchaus wünschenswerte Entwicklung beschreiben.

Der frühere französische Premierminister Michel Rocard (PS/SPE) etwa vertritt diesen Standpunkt bereits seit einigen Jahren. Mehrere französische Europaabgeordnete unterschiedlicher Parteien haben sich ihm inzwischen angeschlossen.

Der bekannte Ökonom Paul de Grauwe argumentierte jüngst ebenso. Und sogar der Europablogger Jon Worth, der als Brite in Berlin persönlich wohl zu den Hauptleidtragenden eines Brexit zählen würde, erklärte vor kurzem, dass „Föderalisten und Progressive außerhalb des Vereinigten Königreichs“ sich für einen britischen EU-Austritt einsetzen sollten.

Das pro-europäische Argument für einen britischen Austritt

Das wesentliche Argument dieser pro-europäischen Brexit-Freunde geht so: Die Hoffnung, dass das Referendum dauerhaft zu einem besseren britisch-europäischen Verhältnis führt, ist illusorisch:

Auch wenn die Bleiben-Seite gewinnt, wird das Ergebnis wohl nur knapp ausfallen, und unter den Anhängern der regierenden Conservative Party wird eine Mehrheit für den Austritt gestimmt haben.

Viele in der Partei werden deshalb nur nach einem passenden Vorwand suchen, um die Abstimmung zu wiederholen – aus dem Referendum würde ein „Neverendum“.

Auch der zwischen Cameron und dem EU-Ratspräsidenten Donald Tusk (PO/EVP) ausgehandelte Deal mit dem symbolischen britischen Opt-out aus dem Prinzip der „immer engeren Union“ verheißt nichts Gutes.

Cameron nutzt diese Vereinbarung, um in der Referendumskampagne Erwartungen an einen Integrationsstopp zu schüren, zu dem der Rest der EU in Wirklichkeit kaum bereit sein wird. Spätestens bei der nächsten Vertragsreform werden die Konflikte deshalb neu ausbrechen.

Jon Worth zufolge versteht Großbritannien die EU zudem stärker als andere nationale Regierungen als Nullsummenspiel zwischen den Mitgliedstaaten, bei dem es immer Sieger und Verlierer geben muss – und parlamentarische Demokratie als etwas, was nur auf nationaler Ebene möglich ist, nicht im überstaatlichen europäischen Rahmen.

Fortschritte auf dem Weg zu einer europäischen Demokratie, in der nicht nationale Interessen, sondern konkurrierende Visionen des europäischen Gemeinwohls die Politik bestimmen, seien deshalb ohne Großbritannien leichter zu erzielen.

Nicht nur Großbritannien blockiert

Wäre Europa also wirklich besser dran, wenn Großbritannien austritt? Auch an den Argumenten der pro-europäischen Brexit-Befürworter lässt sich zweifeln.

Denn auch wenn der britische Europadiskurs sich durch einen besonders vehementen Nationalismus auszeichnet, ist die britische Regierung oft genug nur die lauteste, nicht aber die einzige Gegnerin wichtiger neuer Integrationsschritte.

Um nur ein Beispiel zu nennen: Wenn es um einen größeren EU-Haushalt oder eine eigene europäische Steuerkompetenz geht, stand die deutsche Bundesregierung in den letzten Jahren stets fest an der Seite Großbritanniens.

Ob ein Brexit wirklich neue Integrationskräfte freisetzen könnte, ist deshalb fraglich. Ebenso gut könnte es sein, dass dadurch nur die übrigen Blockierer einen Vorwand verlieren – und künftig ihre Vorbehalte selbst äußern, statt das den Briten zu überlassen.

Zum Austritt zu drängen wäre vorauseilende Kapitulation

Der eigentliche Grund, weshalb ich selbst es für falsch hielte, den Briten einen Austritt nahezulegen, ist jedoch ein anderer.

Der ganze Zweck der europäischen Integration besteht darin, die traditionellen diplomatischen Formen der internationalen Politik durch eine überstaatliche Demokratie zu ersetzen, um gemeinsame Angelegenheiten in gemeinsam gewählten Institutionen zu regeln und damit der Verflechtung der europäischen Gesellschaften besser gerecht zu werden.

Dieses Ziel aber gilt für das Vereinigte Königreich wie für jedes andere Land: Seine Mitgliedschaft in der EU ist gegenüber dem Versuch „souveräner“ Nationalstaatlichkeit ein demokratischer Gewinn.

Wenn eine Mehrheit der britischen Bevölkerung das anders sieht, sollten wir europäischen Föderalisten versuchen, sie mit unseren Argumenten zu überzeugen. Falls uns das nicht gelingt, werden wir mit dem Austritt leben können.

Sie selbst zum Austritt zu drängen aber käme einer vorauseilenden Kapitulation gleich, die wir nicht nötig haben: Die europäische Idee ist in Großbritannien nicht weniger richtig als anderswo.

Dieser Text ist ein Auszug aus dem Blog „Der (europäische) Föderalist“. Der Original-Beitrag steht hier.