Das Veto-Paradox, das Vorratsdaten-Debakel – und die EU hat Long COVID

Die Watchlist EUropa vom 21. September 2022

Deutschland will führen und die EU zum Groß-EUropa ausbauen – das hat Kanzler Scholz in seiner Prager Europa-Rede unmißverständlich klar gemacht. Doch dummerweise gibt es da ein Problem: Jeder EU-Beitritt, jede außenpolitische Entscheidung und jede Sanktion kann mit dem Veto eines einzigen EU-Landes gestoppt werden.

Also ist es nur folgerichtig, dass die Bundesregierung nun versucht, das Vetorecht zu kippen und Entscheidungen mit qualifizierter Mehrheit – im Brüsseler Fachjargon QMV – auszuweiten. Im Allgemeinen Rat hat Europa-Staatssekretärin Anna Lührmann nun eine Debatte angestoßen.

Unterstützt wird sie von einem halben Dutzend „gleichgesinnter“ Länder – und vom tschechischen EU-Vorsitz. Eine Mehrheit der EU-Staaten sei bereit, über QMV zu diskutieren, sagte der tschechische Europaminister Mikuláš Bek nach dem Ratstreffen in Brüssel.

Widerstand kam wie erwartet von Ungarn, aber auch aus Irland und Österreich. Die ungarische Justizministerin Judit Varga betonte, ihr Land werde sich einem Ende des Einstimmigkeitsprinzips widersetzen. „Wir würden gerne zum Geist der Zusammenarbeit in der EU zurückkehren“, sagte sie.

Ungarn ist nicht isoliert

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Ungarn hat immer wieder geplante EU-Sanktionen gegen Russland verzögert oder aufgeweicht. Allerdings ist das Land nicht so isoliert, wie es scheint. In der Sanktionspolitik sei es „die wahre Stärke der EU (…) dass wir auch Beschlüsse einstimmig fassen“, sagte Österreichs EU-Ministerin Karoline Edtstadler.

Lührmann versprach, auf die Bedenken einzugehen. Die Grünen-Politikerin zeigte sich „optimistisch, dass Fortschritte möglich sind“. Berlin will dafür die sogenannte Passerelle-Klausel im EU-Vertrag nutzen. Damit können die EU-Chefs beschließen, in bestimmten Bereichen zu Mehrheitsvoten überzugehen.

Allerdings ist dafür wiederum Einstimmigkeit im Rat nötig. Ungarn könnte die Reform also mit einem Nein blockieren – die Aufhebung des Veto-Rechts würde damit an einem Veto scheitern. Wie man dieses Veto-Paradox aufheben soll, konnte bisher noch niemand sagen.

Scholz will Druck machen

Kanzler Scholz hat aber offenbar eine Idee: Er will Druck machen, indem er die EU-Erweiterung vorantreibt. Wer die Ukraine und den Westbalkan aufnehmen wolle, so sein Argument, müsse auch das Vetorecht aufheben – denn sonst wäre die EU ja gar nicht mehr handlungsfähig.

Dagegen könnte man natürlich einwenden, dass wir gar kein Groß-EUropa brauchen und den EU-Club erst einmal aufräumen sollten. Scholz lässt das aber nicht gelten. Er hofft, dass Länder wie Ungarn und Polen einlenken – denn die seien doch besonders an der Erweiterung interessiert…

Siehe auch „Projekt Groß-EUropa“ und „Zypern, das Veto und QMV“

Watchlist

Kippt die Vorratsdatenspeicherung? Der Europäische Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg erklärte die bisherige deutsche Regelung für nicht vereinbar mit dem EU-Recht. In der Bundesregierung zeichnete sich eine Debatte darüber ab, wie eine Nachfolgeregelung genau aussehen könnte. Bundesjustizminister Buschmann (FDP) kündigte an, die anlasslose Vorratsdatenspeicherung „zügig und endgültig“ aus dem Gesetz zu streichen. Er wirbt für das sogenannte Quick-Freeze-Verfahren, das die Speicherung von Kommunikationsdaten nur anlassbezogen und auf richterliche Anordnung zulässt. Bundesinnenministerin Faeser (SPD) drängte dagegen darauf, die Spielräume des EuGH-Urteils zu nutzen und IP-Adressen weiter zu speichern…

Was fehlt

Das Ende der Corona-Pandemie. „Wir in Europa betrachten die Pandemie immer noch als andauernd und es ist wichtig, dass sich die Mitgliedsstaaten auf die Einführung der Impfstoffe und insbesondere der angepassten Impfstoffe vorbereiten, um eine weitere Ausbreitung dieser Krankheit in Europa zu verhindern“, erklärte die Europäische Medizinagentur EMA. Die geplante Impfkampagne für den Winter sei der Schlüssel zur Bekämpfung der Pandemie. In den USA sieht man das anders: Präsident Joe Biden hatte am Sonntag die Pandemie für beendet erklärt… – Mehr hier