Das Politbeben in Thüringen erschüttert auch Brüssel
Thüringen ist für die meisten EU-Politiker weit weg. Dennoch hat das Politbeben aus dem fernen Bundesland nun auch Brüssel erreicht. Vor allem im Europaparlament geht es zur Sache.
Der Belgier Guy Verhofstadt, der noch bis vor kurzem die Liberalen anführte, verglich die Wahl des FDP-Politikers Thomas Kemmerich mit dem Aufstieg Hitlers. “Not in our name” schrieb er auf Twitter.
Das meint und trifft vor allem Nicola Beer. Die deutsche FDP-Politikerin ist auch Vizepräsidentin des Europaparlaments – und sitzt in derselben liberalen “Renew”-Fraktion wie Verhofstadt.
Beer hat nun große Mühe, sich von ihren Parteifreunden in Thüringen abzugrenzen.
“Als freie und liberale Demokratin steht für mich fest: klares Nein zur AfD. Es hat und wird keine Zusammenarbeit geben”, schrieb sie ebenfalls auf Twitter.
2/2 Als freie und liberale Demokratin steht für mich fest: klares Nein zur AfD. Es hat und wird keine Zusammenarbeit geben. Das hat auch #Kemmerich betont #Thueringen #afd
— Nicola Beer (@nicolabeerfdp) February 5, 2020
Doch zugleich übernahm Beer die Linie von Parteichef Christian Lindner, der versucht hat, die Verantwortung an CDU, SPD und Grüne abzuschieben. Eine klare Distanzierung sieht anders aus.
Der grüne Europapolitiker Rasmus Andresen fordert deshalb schon Beers Rücktritt.
Zitat: “Nicola Beer kann ein Parlament, das klare Kante gegen Faschist*innen zeigt nicht nach außen & europäische Liberale nicht im EP Präsidium vertreten.”
Liberale, die relativieren anstatt zu widersprechen, sind ungeeignet die Demokratie zu repräsentieren. Nicola Beer kann ein Parlament, dass klare Kante gegen Faschist*innen zeigt nicht nach außen & europäische Liberale nicht im EP Präsidium vertreten. Rücktritt. #Thueringen https://t.co/CWYqX1nXtK
— Rasmus Andresen 🇪🇺🏳️🌈 (@RasmusAndresen) February 6, 2020
Seither herrscht Funkstille zwischen FDP und Grünen im Europaparlament. Auch die anderen Fraktionen halten sich bedeckt – ob sie die weitere Entwicklung in Deutschland abwarten wollen?
Fest steht, dass das Thüringer Theater das lockere “proeuropäische” Bündnis zwischen Liberalen, Konservativen und Sozialdemokraten im Europaparlament vor eine Zerreißprobe stellt.
Auf dieses Bündnis stützt sich auch Kommissionschefin von der Leyen (CDU). Nun wird nicht nur ihre wacklige Mehrheit im EU-Parlament erschüttert, sondern auch ihre eigene Partei…
Claus Hiller
7. Februar 2020 @ 19:12
tagesschau.de: „Kanzlerin Merkel hat die Wahl des FDP-Politikers Kemmerich zum Thüringer Ministerpräsidenten scharf verurteilt. Diese müsse rückgängig gemacht werden.“
Da scheint die DDR-Vita durchzukommen: Es wird solange gewählt, bis es passt.
Wo bleibt der Verfassungsschutz?
Peter Nemschak
8. Februar 2020 @ 09:39
Typisch deutsch, was hier passiert. Die Deutschen wollen für die Welt (ungebetene) Vorturner im Antifaschismus sein und zeigen dabei ihre antiliberale Grundhaltung. Kein Wunder, dass der Begriff vom hässlichen Deutschen immer wieder Konjunktur hat. Die Italiener sind lockerer und sympathischer, weil sie keine Berührungsängste selbst mit so faschistischen Politikern wie Salvini haben. Sie wollen nicht die Welt belehren und bekehren, was für sie spricht.Wenn man demokratische Systeme künstlich zurückstaut, wie es die Deutschen durch die politische Ausgrenzung der AfD vorführen, kommt es früher oder später zu explosionsartigen Korrekturen. Diese stehen Deutschland noch bevor.
Peter Nemschak
7. Februar 2020 @ 14:13
@ebo Die meisten Stimmen führen nicht immer zu den meisten Mandaten und die meisten Mandate nicht notwendigerweise in eine Regierung. Minderheitsregierungen sind durchaus eine Möglichkeit und sind verfassungsrechtlich zulässig. Offenbar wollten die Linken und Grünen eine liberale Minderheitsregierung nicht stützen. Die AfD hat nicht ungeschickt gespielt, die anderen Parteien nicht vereint dagegen gehalten. Ein wenig Schadenfreude kann ich nicht verhehlen.
ebo
7. Februar 2020 @ 14:15
Wohl wahr. Manchmal stimmt nicht einmal die AfD für den Afd-Kandidaten – so wie in Thüringen 🙂
Peter Nemschak
7. Februar 2020 @ 12:26
Unverständlich, dass SPD,Linke und Grüne den gewählten liberalen Kandidaten nicht unterstützt haben statt moralischen Schleim abzusondern.
ebo
7. Februar 2020 @ 12:34
Nanu, wollen Sie sich etwa als “bürgerlicher” AfD-Fan outen? Aber im Ernst: Der Kandidat der FDP hat bei der Landtagswahl in Thüringen gerade einmal 5 Prozent der Stimmen geholt, er hat keinen Regierungsauftrag und schon gar keine linksliberale Mehrheit.
Peter Nemschak
7. Februar 2020 @ 13:30
Damit hätten die anderen Parteien die AfD ausbremsen können. Das war es den Linken offenbar nicht wert. Die Wähler wählen Parteien, keine Koalitionen oder Regierungen. Dass die AfD damit eine rotrotgrüne Regierung verhindert hätte, wäre nicht das Ende der Welt gewesen.
ebo
7. Februar 2020 @ 13:41
Der Linke Ramelow hat bei der WAhl die meisten Stimmen geholt. Sie verdrehen das Wahlergebnis in Thüringen. Haben Sie eigentlich FPÖ gewählt?
Kleopatra
8. Februar 2020 @ 08:22
Die Landtagswahl ist keine Direktwahl des Ministerpräsidenten. In einem parlamentarischen System ist dafür das Parlament zuständig. Auch auf Bundesebene wird oft nicht der Kandidat der stärksten einzelnen Fraktion Kanzler.
Wäre Ramelow Ministerpräsident, würde er für jedes Gesetz und für den Haushalt eine (relative) Mehrheit in demselben Parlament brauchen. Er könnte also keine Gesetze durchsetzen, die nicht auch jetzt beschlossen werden könnten; und umgekehrt: was jetzt eine Mehrheit des Landtags gegen sich hat, hätte sie auch unter einem Ministerpräsidenten Ramelow gegen sich. Deshalb erhält die AfD durch die geschehene Wahl keine zusätzliche tatsächliche Macht (denn wenn ein gesetz weder CDU, FDP noch AfD gefällt, wird es nicht zustandekommen, egal wie der Ministerpräsident heißt). Was sich wirklich getan hat, bleibt auf der symbolischen Ebene: es wurde demonstriert, dass man bereit ist, auf die Wünsche der Berliner Führung und des Kommentariats, die beide eine Wahl Ramelows gewollt hatten, zu pfeifen.
Europapolitikern wäre zu empfehlen, sich zurückzuhalten. Die aggressive Reaktion auf die erste ÖVP-FPÖ in Österreich hat in diesem Land die EU ein Gutteil ihrer bis dahin vorhandenen Symapthien gekostet.
Michael Becker
7. Februar 2020 @ 08:34
Altbekannte Strategie der DDR Staatssicherheit:
Richtlinie 1/76 , Abs. 2.6.2 :
…“Bewährte anzuwendende Formen der Zersetzung sind: -systematische Diskreditierung des öffentlichen Rufes, des Ansehens und des Prestiges auf der Grundlage miteinander verbundener wahrer, überprüfbarer und diskreditierender sowie unwahrer, glaubhafter, nicht widerlegbarer und damit ebenfalls diskreditierender Angaben; -systematische Organisierung beruflicher und gesellschaftlicher Misserfolge zur Untergrabung des Selbstvertrauens einzelner Personen….“
Alexander
7. Februar 2020 @ 02:18
“Es hat […] keine Zusammenarbeit geben.”
Was für ein Meisterwerk auf dem Gebiet der Gedankenverarbeitung! Aus der Dame kann noch etwas werden!
“ein Parlament, dass klare Kante gegen Faschist*innen zeigt”
Orban und Erdogan können das bezeugen!
Aber die 30er Jahre komen ja erst noch. Vielleicht sogar vorzeitig.
Peter Nemschak
6. Februar 2020 @ 14:59
Das Europäische Parlament soll sich nicht in nationale Angelegenheiten, von denen es nichts versteht, einmischen. Es überschätzt seine Macht und hält sich für das europäische Überparlament, was es strukturell nicht ist. Die EU ist ein Bund von souveränen Staaten, welche Teile ihrer Souveränität an die EU delegiert haben. Diese Delegation kann per Vertragsänderung rückgängig gemacht werden. Deutschland hat ein gestörtes Verhältnis zu seiner AfD. Entweder ist die Partei verfassungswidrig, dann gehört sie verboten, wenn nicht, gehört sie wie jede andere Partei behandelt. Das Ausgrenzen der AfD lässt sich nicht vom Ausgrenzen ihrer Wähler trennen. In einer pluralistischen Gesellschaft ist auch die Politmoral pluralistisch. Das muss eine funktionierende Demokratie aushalten, auch wenn so manches bei der AfD unappetitlich ist. Es ist an der Zeit, dass sich die CDU von Merkel verabschiedet, will sie nicht das Schicksal der SPD teilen. Was in Thüringen passiert, ist ein Klacks, um nicht zu sagen Fliegenschiss, verglichen mit einem Strache als zeitweisen Vizekanzler und Kickl als Innenminister in der österreichischen Türkis/FPÖ-Regierung, die mittlerweile Geschichte ist. Eine Politik, welche die Interessen der AfD-Wähler berücksichtigt, würde helfen verlorene Wähler über kurz oder lang zurückzugewinnen. Feindbilder bewirken das Gegenteil: und jetzt erst recht. Die von den Parteien für sich in Anspruch genommene moralische Überlegenheit gegenüber der AfD wird von freien Bürgern als Moraldiktat empfunden.