Das krasse Dilemma der EU-Politiker
Kurz nach Beginn des Ausnahmezustands in vielen EU-Ländern wird immer klarer, dass die Corona-Krise länger dauern wird als die angekündigten zwei Wochen. Das stürzt die EU-Politiker in ein krasses Dilemma.
Wenn wir zwei Wochen die Schulen dicht machen und die Menschen zuhause halten, so werden wir die Kurve der Neuinfizierten flach halten und einen Zusammenbruch des Gesundheitssystems verhindern. So hieß es Anfang dieser Woche in Brüssel, Berlin und Paris.
Doch wenige Tage später ist klar: Mit zwei Wochen wird es nicht getan sein. Italien hat jetzt schon mehr Tote als China und kündigt nun eine Verlängerung des Ausnahmezustands an. Deutschland bereitet eine Ausgangssperre vor, ein Ende der Krise ist nicht absehbar.
Damit schwindet aber auch die Hoffnung der EU-Politiker, den sozialen und wirtschaftlichen Schaden begrenzen zu können. Zwei bis vier Wochen kann man die Schulen zumachen und die Betriebe in Werksferien schicken, ohne bleibende Schäden zu riskieren.
Doch wenn es sechs Wochen oder gar mehrere Monate werden, dann droht der gesellschaftliche und wirtschaftliche Kollaps. Dann könnte der Schaden durch den Ausnahmezustand größer werden als der Nutzen, den er für die Gesundheit bringt bzw. bringen soll.
Das stellt die EU-Politiker vor ein krasses Dilemma: Sollen sie die Schutzmaßnahmen verlängern, auch wenn die Menschen murren und die Wirtschaft zusammenbricht? Oder sollen sie den Hausarrest aufheben, obwohl die Pandemie noch nicht besiegt ist?
Bis Ostern kann man die Entscheidung vielleicht noch aufschieben. Die EU-Chefs wollen ab sofort einmal pro Woche einen Video-Gipfel abhalten, um ihre Maßnahmen an die Lage anzupassen und Zeit zu gewinnen. Doch dem Dilemma können sie nicht entweichen.
Das ist bitter – denn schließlich haben es unsere Politiker mit verschuldet. Erst haben sie die Pandemie auf die leichte Schulter genommen und die Schutzmaßnahmen sträflich vernachlässigt. Dann haben sie uns eingesperrt, ohne eine Exit-Strategie zu entwickeln.
Gerade Deutschland saß lange auf dem hohen Roß. Jetzt zeigt sich, dass auch im größten und reichsten EU-Land harte und krasse Entscheidungen fällig werden. Selbst die politische Überlebens-Künstlerin Merkel hat keine guten Optionen mehr…
Siehe auch “Update: Europa ist das Epizentrum”
P.S. Österreich weitet den Ausnahmezustand bis zum 13. April aus. Auch in Frankreich denkt man schon über eine Verlängerung nach…
Watchlist
Laufen die Grenzkontrollen, Blockaden und Staus aus dem Ruder? Am 25. Jahrestag des Schengener Abkommens stellt sich diese Frage dringender denn je. “Schengen” stand bisher für grenzenlose Reisefreiheit – doch die Kontrollen in Polen, Ungarn oder Deutschland stellen dieses Prinzip infrage und gefährden die Versorgung mit Lebensmitteln und medizinischen Hilfsgütern…
Was fehlt
Deutsche Hilfe für Italien. Zunächst hatte die Bundesregierung den Export von medizinischen Hilfsgütern beschränkt, nun scheint das dringend benötigte Material endlich in Rom anzukommen. Als Beleg gilt bisher aber nur ein Tweet:
Today we receive important medical supplies from Germany. Thanks @jensspahn for your friendship in this severe crisis. We won´t forget that.
— Roberto Speranza (@robersperanza) March 19, 2020
Das Letzte
Den Letzten beißen die Hunde – auch in der Flüchtlingspolitik. Die Aufnahme von Flüchtlingen aus Krisenregionen und anderen Ländern durch EU-Staaten sei derzeit komplett ausgesetzt, hieß es am Donnerstagabend in Brüssel. Eine Umsiedlung unter den EU-Programmen finde derzeit nicht statt, erklärte die EU-Kommission. Was aus den Menschen werden soll, sagte sie nicht…
Hinweis in eigener Sache: Da das “Raumschiff Brüssel” wegen der Corona-Krise im Sinkflug ist und die EU kaum noch normal arbeitet, wird bis auf Weiteres kein Newsletter mehr erscheinen. Stattdessen werde ich versuchen, täglich eine “gute Meldung” aus Brüssel zu bringen. Ob es gelingt, bleibt abzuwarten – sachdienliche Hinweise bitte an lostineu AT icloud.com
Alexander
21. März 2020 @ 13:31
In den letzten Jahren wurde ja von deutscher Seite gegenüber anderen Euro-Ländern gnadenlos darauf bestanden, dass „die Regeln“ eingehalten werden müssen, auch wenn dadurch großes Leid bis hin zum Tod von Menschen verursacht wird. Wie wird es von den vielen (völlig sinnlos!) gequälten Menschen wohl aufgenommen werden, dass dann, wenn Deutschland betroffen ist, diese „Regeln“ ganz plötzlich nicht mehr gelten?
ebo
21. März 2020 @ 14:28
Mein Ex-Kollege N. Häring hat dazu einen ätzenden Blogpost gebracht: “Draghi, Merkel und Schäuble haben die Toten in Italien mit auf dem Gewissen”
Alexander
21. März 2020 @ 15:01
Danke! Dort schaue ich auch immer mal wieder vorbei.
Hier übrigens Eindrücke aus Italien:
https://vimeo.com/398334975
Claus Hiller
20. März 2020 @ 17:52
Brächte die Corona-Pandemie die Erkenntnis, dass ausschließlich ein demokratisch geführter und souveräner Nationalstaat, der seine lebenswichtigen Ressourcen, seine Grenzen und Währung verantwortet, Krisen wie diese bewältigen kann, könnte man ihr (Verzeihung, Ironie!) etwas Positives abgewinnen. Die EU demonstriert gerade ganz trefflich die Effizienz und den Nutzen einer demokratisch nicht legitimierten Bürokratie, in der alle irgendwie zuständig sind und etwas zu sagen haben aber niemand etwas Nützliches bewirken kann.
Aber Geld scheint ja noch genug druckbar zu sein, da lese ich gerade bei ARD: „Die EZB will die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie abfedern. Dafür kündigt sie ein Hunderte Milliarden schweres Notkaufprogramm an – mit Spielraum nach oben. Die Europäische Zentralbank (EZB) stemmt sich mit neuen umfassenden Anleihenkäufen gegen die immer größeren wirtschaftlichen Folgen der Coronavirus-Pandemie.“
Welche Werte stehen denn diesen Hunderten von Milliarden gegenüber? Der Wert, an den man noch glaubt, oder der Papierwert der Euro-Geldscheine?
Holly01
20. März 2020 @ 19:30
Der Wert einer Währung, besteht im Willen der Gesellschaft, dieses Geld zu bedienen.
So lange alle Zinsen zahlen, Giralgeld gegen Waren tauschen und retour, so lange hat Geld einen Wert.
Also werden Sie nicht nervös. Das ist schon ok so.
Wichtig (also richtig wichtig) wäre eine Entschuldung. Man sollte pauschal allen 20.000 Schulden erlassen.
Das klingt wilder als es ist.
Aber das Gros wäre damit frei von Schulden und kann aktiv bleiben.
Genauso sollten die Banken allen Kunden einen Dispo von 10.000€ einräumen.
Sie mögen denken das ist frei drehend, aber Geld in der Form von Giralgeld, ist wirklich nur ein Mittel der Gesellschaftspolitik. Nicht mehr und nicht weniger.
Im schlimmsten Fall heißt der Kram in 2022 eben Euro-2, das ist nicht mal eine Randnotiz, da können wir einen schöne EU weite Namensfindung machen ….
Im Moment muss man Potentiale und Menschen schützen.
vlg
Kleopatra
20. März 2020 @ 13:24
Nicht nur Flüchtlinge sind die Letzten, die von den Hunden gebissen werden. In der FAZ ist heute zu lesen, dass bei Freiburg Krankentransporte aus Frankreich zurückgewiesen werden. Damit wird die Epidemie endgültig zu einer bitteren Lektion darüber, dass wenn es hart auf hart kommt, nur der Nationalstaat zählt und sowohl die EU als auch die grenzüberschreitende Zusammenarbeit sofort von der Bildfläche verschwinden. Das bedeutet aber natürlich auch, dass künftig grenzüberschreitende Zusammenarbeit kein Anlass mehr sein kann, Kapazitäten auf der eigenen Seite abzubauen, einzusparen oder nicht aufzubauen.
Alexander
20. März 2020 @ 14:15
Zeigt sich wirklich in allen EU-Ländern, “dass wenn es hart auf hart kommt, nur der Nationalstaat zählt”, oder ist es vielleicht so, dass (wieder) ein bestimmtes EU-Land besonders unangenehm auffällt? Mir fehlt da zur Zeit der Überblick.
ebo
20. März 2020 @ 14:31
Deutschland fällt besonders unangenehm auf, siehe Schengen
Kleopatra
21. März 2020 @ 09:21
Deutsche Alleingänge wie der erwähnte lehren alle anderen EU-Staaten auf die bittere und harte Art, dass sie sich in echten Notfällen nur auf ihre eigenen Kapazitäten verlassen können. Daher werden nach der Epidemie Projekte wie die “Euregionen” nicht mehr wie bisher funktionieren. Jeder weiß nun, dass er seine Probleme und seine Katastrophenvorkehrungen selbst machen muss, ohne sich im schlimmsten Fall auf die Leute im Nachbarland verlassen zu können. Diese Lektion wird in den anderen EU-Staaten ankommen.
Anscheinend hat sich der bw. Ministerpräsident mittlerweile dafür stark gemacht, auch Patienten aus Haut-Rhin in Freiburger Kliniken zu behandeln. Gut, allerdings dürfte der Vertrauensschaden bereits entstanden sein und wie lange er vorhält, bleibt abzuwarten.
Pjotr56
20. März 2020 @ 12:28
Übrigens, “Draghi, Merkel und Schäuble haben die Toten in Italien mit auf dem Gewissen”:
https://norberthaering.de/eurokrise/draghi-italien-corona/
Alexander
20. März 2020 @ 14:00
Achwas! Die arbeitsscheuen und gierigen Pleite-Südländer sollen lieber ihre Hausaufgaben machen, statt in faul in Holzkisten herumzuliegen! >;->
Und der Herr Söder, der damals in der Jauch-Sendung zu den Jammer-Griechen diesem Yanis Fakelakis in aller Freundschaft mal so richtig die Meinung gegeigt hat, ist auf dem Weg nach *ganz* oben! So geht Deutschland!
(Ob die B-Zeitung mir wohl bald das Angebot macht, den Reichelt zu beerben, weil der einfach zu lasch ist?)
Holly01
20. März 2020 @ 10:04
Ich hätte für die armen Politiker in der Zwickmühle einen Hinweis:
1982 bis 1998 Kohl
1998 bis 2005 Schröder
2005 bis heute Merkel
Bis auf die Linke und die Rechte waren alle Parteien beteiligt und alle wichtigen “Sparbeschlüsse” waren Konsens. Griechenland war denen ein Fest. Italien hängen lassen war ok. Der Schweiz Schutzausrüctung stehlen war richtig. Nun erklärt Euch Mal.
Nun haben wir das just in time System ohne Reserven und Gewinn optimiert, das wir ja “sooo” gerne wollten, wir haben die ja gewählt.
Wen interessiert es schon, das wir seit Jahrzehnten aus der Substanz leben. Meist der Substanz der ehemaligen Mittelklasse. Jetzt können die Reichen zeigen aus welchem Holz die sind.
Spätestens nach dem Wochenende kommt Plan “B”.
Die Risikogruppen werden in Quarantäne geschickt und der Rest geht wieder an die Arbeit.
Kleiner Querverweis:
” https://www.heise.de/tp/features/Coronavirus-Sind-die-kontakfreudigen-20-Jaehrigen-die-am-staerksten-infizierte-Altersgruppe-4686649.html ”
Bei ausreichend schneller Verbreitung verbreitern sich die Risikogruppen und auch Menschen die “statistisch” keine Probleme haben, sterben.
In den USA trifft das (bis auf Spizeninstitute, die nur die Superreichen bedienen) schlechteste Gesundheitssystem, auf die am stärksten Kapital optimierte (verarmte) Gesellschaft, die im Gros von der Hand in den Mund lebt und jeden Tag arbeiten MÜSSEN, um überleben zu können.
Jetzt werden sich die Camperparks und Zeltstädte richtig rächen, auch weil es sehr sehr viele Infektionsherde gibt und rasend schnell abläuft. Der schlimmste anzunehmende Fall.
Die Neoliberalen können uns JETZT erklären wo das hin führen soll und wem das dient.
Das kann ich kaum erwarten.
Dann löst sich dieses Dilemma der Politik auf. Wir jagen dieses Pack (endlich) vom Hof ….
Also Bertelsmänner, Sinns, Mieses Institut, Mont Pèlerin Society und ähnliche Meinungsinhaber, ans Werk. Erklärt Mal was das gebracht hat. Habt Ihr jetzt endlich genug Schaden angerichtet und Europa und die USA ruiniert?
Ich kann die Erklärungen kaum erwarten, das wird doch erhellend oder?
bleibt gesund
Alexander
20. März 2020 @ 11:25
Nanana! Die Alternativlose steht laut Infratest wieder bei 30%!:
http://www.wahlrecht.de/umfragen/dimap.htm
Ich sage Euch: Wenn sie uns allen jetzt noch regelmäßig ‘ne Rolle Klopapier schenkt, dann gerät sogar die absolute Mehrheit in Reichweite! ;->
ebo
20. März 2020 @ 11:33
Abwarten. Wenn am Sonntag die Ausgangssperre verhängt wird, ist Schluß mit lustig. Irgendwann wird man dann fragen, warum Merkel nichts gesagt und nicht früher gehandelt hat.
Peter Nemschak
20. März 2020 @ 08:38
Die Testkapazitäten sollten so rasch wie möglich auf südkoreanisches Niveau gehoben werden, um endlich die Ausbreitungskontrolle zu erlangen. Ich gehe davon aus, dass das ohnedies passieren wird. Mit einer signifikanten Erhöhung der Sterblichkeitsrate über die normale hinaus wird man rechnen müssen. Südkorea hat es innerhalb überschaubarer Zeit geschafft. Warum sollte das nicht auch in Europa möglich sein ? Selbstdisziplin der Bürger kann dazu beitragen die Schäden in Grenzen zu halten. Gegebenenfalls muss der Staat mit Zwangsmaßnahmen nachhelfen. Das demokratische Herumlabern kann warten. Wir leben im Ausnahmezustand, immer noch besser als unsere Vorgänger während der Weltkriege.
Holly01
20. März 2020 @ 10:15
Ach, die USA geben den Staffelstab an China weiter. Dieses Mal ohne Weltkrieg, sondern mit einem Kollaps des Kapitalcasinos?
Wegen dem Virus befreien die die Welt von ihrem Militär und ziehen sich auf ihr Territorium zurück.
Was wird aus den Schulden? Schreiben die Schuldner das einfach ab?
” signifikanten Erhöhung der Sterblichkeitsrate ” und ” Das demokratische Herumlabern kann warten. ” ist das ironisch gemeint? Motto, man muss sich eben fügen?
Na. Da kann ich kaum erwarten zu sehen, was von der EU übrig bleibt ….
bleiben Sie gesund
ebo
20. März 2020 @ 11:39
Tja, es wird wohl wirklich das “chinesische Jahrhundert”. Allerdings mit einem sehr negativen Beigeschmack…