„Dann kann Merkel abdanken“

Wie lange kann sich Kanzlerin Merkel noch an der Macht halten? Und warum profitieren vor allem die Grünen, nicht aber die Linken, von der Krise der GroKo in Berlin? Darüber habe ich mit G. Gysi* gesprochen.

Ein halbes Jahr vor der Europawahl ist viel in Bewegung gekommen. Angela Merkel gibt den CDU-Vorsitz ab, die Grünen stürmen nach vorn, die CSU will den nächsten EU-Kommissionspräsidenten stellen. Wie finden Sie das?

Es stimmt mich nachdenklich. Denn dahinter steht eine weltweite Rechts-Entwicklung. Wir spüren einen Hang zu einfachen Lösungen und eine neue  Zuneigung zu Despoten. Die deutsche Politik findet darauf bisher keine vernünftige Antwort. Merkel hat einen großen Fehler gemacht: Sie hat den richtigen Zeitpunkt für ihren Rückzug verpasst. Sie hätte schon vor ein-zwei Jahren gehen sollen. Jetzt wird sie von ihrer eigenen Partei zerbröselt. Aber nicht nur in der CDU und in der CSU rumort es. Das gesamte Altparteien-System in Deutschland zerfällt – und dagegen können sich weder CDU noch CSU stemmen, geschweige denn die SPD. Nur die Grünen sind erfolgreich…

Wie erklären Sie sich den Erfolg der Grünen?

Dafür sehe ich derzeit drei Gründe: Die Menschen wollen mehr Ökologie, der Klimawandel hat viele aufgerüttelt. Außerdem stellen die Grünen – anders als die Linke, die vor allem die soziale Frage umtreibt – die Gesellschaftsfrage: Wie wollen wir in Zukunft leben, wie können wir die Demokratie retten und weiterentwickeln? Und drittens wählen viele Menschen die Grünen, weil sie als Gegenüber zur AfD zu gelten. Ich sage bewußt: gelten. Das ärgert mich, denn das könnte eigentlich die Linke sein – ist sie aber nicht.

Warum dringt die Linke nicht durch?

Weil wir in drei Fragen unterschiedliche Positionen haben, und eine steht im Vordergrund: das ist die Flüchtlingsfrage. Da ist der Widerspruch zwischen der Mehrheit der Partei und Sarah Wagenknecht. Der zweite Widerspruch ist, dass Sarah gerne raus aus dem Euro möchte. Ich fand es falsch, in den Euro reinzugehen, weil ich gesagt habe, eine gemeinsame Währung bedeutet immer, dass das günstigste Angebot gilt – so kamen wir zur Agenda 2010, aber auch zur Sparpolitik von Merkel und Schäuble. Doch jetzt rauszugehen, würde zu schweren sozialen Verwerfungen führen. Deshalb plädiere ich dafür, dass Deutschland seinen Überschuss abbaut, indem man die Binnen-wirtschaft stärkt. Der dritte Widerspruch ist, dass Teile unserer Partei die Rückführung von EU-Befugnissen auf den Nationalstaat wollen. Alle drei genannten Ansätze halte ich für falsch. Doch es ist vor allem der Streit über die Flüchtlinge, der uns schadet. Die jungen Leute stößt das ab.

Der Streit um die Flüchtlingspolitik schadet aber auch CDU und CSU, wie die letzten Wahlen gezeigt haben. Glauben Sie, dass Merkel zur Europawahl  im Mai 2019 noch Kanzlerin ist? Wenn nein – wäre das schlimm für die EU?

Das hängt vom Ausgang des Machtkampfs um die CDU ab. Wenn AKK den Parteivorsitz bekommt, dann kann Merkel weiter machen. Sonst kann sie abdanken – doch das dürfte erst nach der Europawahl geschehen.

Wäre es schlimm für Europa, wenn Merkel geht?

Wenn auf Merkel ein national gesonnener Kanzler folgt, so wäre das schlimm, denn es würde die antieuropäischen Bewegungen stärken. Ansonsten gehöre ich nicht zu jenen, die Merkels Europapolitik für unverzichtbar oder alternativlos halten. Schön, sie kann vermitteln, was bei EU-Gipfeln hilfreich ist. Doch ihr Kurs während der Eurokrise war verheerend. In Südeuropa gab es einen massiven wirtschaftlichen und sozialen Abbau, dabei hätten wir einen Aufbau nach dem Vorbild des Marschall-Plans gebraucht.

Dieses Europa ist in sechs Monaten zu Ende“, sagt Italiens Fünf-Sterne-Chef Di Maio mit Blick auf die Abstimmung im Mai 2019. Erwartet uns ein Erdrutsch?

Ich fürchte in der Tat, dass die Europawahl mehr EU-Gegner ins Parlament bringen wird. Di Maio arbeitet ja darauf hin, er will die Krise verschärfen. Aber: Wenn die EU zusammenbricht, dann kommt der Krieg zurück nach Europa, davon bin ich fest überzeugt. Außerdem würden wir die Jugend enttäuschen. Wir haben heute eine europäische Jugend, die in andere Länder reisen und dort studieren will! Die Wiedererrichtung von Grenzen wäre eine Zumutung. Auch deshalb müssen wir weiter für Europa kämpfen.

*Gysi, 70, ist Präsident der übernationalen Europäischen Linken. Bis 2015 war er Fraktionschef der Linken im Bundestag.