Die „flache Kurve“ ersetzt keine Politik

In der Coronakrise folgt die Politik der Strategie der „flachen Kurve“. Sie scheint langsam zu greifen: Die Zahl der Neuinfektionen beginnt sich abzuflachen. Doch für Entwarnung ist es viel zu früh – die Strategie erweist sich als lückenhaft.

Seit dem Beginn des Ausnahmezustands kennen wir alle diese berühmten zwei Kurven. Die eine, steile, zeigt die Zahl der Neuinfektionen an, die andere, flache, die Kapazität des Gesundheitswesens. Die einzig richtige und mögliche Strategie, so wurde uns gesagt, bestehe darin, die erste Kurve nöglichst flach zu halten, so daß sie die nationalen Möglichkeiten nicht überschreitet.

Schon das war arg vereinfacht. Denn die Kapazität des Gesundheitswesens kann sich ja erhöhen. Man muß sie auch nicht national betrachten, sondern könnte sie auch europäisch denken. Hätte man die Infizierten von Anfang an EU-weit verteilt, hätte man viele Menschenleben retten können.

Nun kommen die ersten Zahlen, die eine Abflachung der Kurve der Neuinfektionen nahelegen. In Italien und Spanien gebe es einen „Rückgang neuer Fälle“, meldet die „Tagessschau“.

Auch in Deutschland und Belgien freuen sich die Medien über einen Rückgang der Zuwachsrate. Dabei ist dies kein brauchbarer Indikator für eine Entspannung.

Eine echte Entspannung kann es nämlich erst geben, wenn die Fallzahlen gar nicht mehr steigen, also die Spitze erreicht wird. Das sei frühestens in einer Woche zu erwarten, heißt es in Belgien.

Und selbst dann stellt sich noch die Frage, ob diese Spitze oberhalb oder unterhalb der verfügbaren Kapazitäten liegt. Liegt sie drüber, geht die Katastrophe weiter, mit immer mehr Toten.

Das größte Problem der Strategie der „flachen Kurve“ ist aber, dass sie entscheidende Fragen offen lässt: Wie lange dauert es, bis die Kurve „flach genug“ ist, und wie wird dieser Punkt definiert?

Wenn es zwei Jahre dauert, bis der Ausnahmezustand beendet werden kann, dann wird uns das nicht mehr helfen – dann dürfte die Wirtschaft längst zusammengebrochen sein. Und dieser Zusammenbruch wird weitere Todesopfer fordern.

Wenn der Ausstieg hingegen früher erfolgen soll, dann ist die entscheidende Frage: an welcher Stelle der Kurve? Dort, wo wir in die Kontaktsperren „eingestiegen“ sind? Auch das kann dauern.

Wenn man aber schon bei höheren Fallzahlen erste Lockerungsübungen macht, dann braucht es Tests, Schutzmasken, Überwachungs-Programme incl. mobiler Tracking-Apps etc.

Diese Dinge stehen derzeit aber nicht oder nur in ungenügender Menge zur Verfügung. Und ob und wann sie eingesetzt werden, ist eine politische Frage, keine medizinische.

Die Politik darf sich nicht hinter Experten verstecken – sie muß Ziele setzen

Deshalb ist es auch falsch, wenn die Politik nur auf die Experten hört und auf die Zahlen starrt. Die Politik muß endlich wieder Ziele setzen und dann die passenden Mittel dafür bereitstellen.

All dies muß öffentlich diskutiert werden und demokratischer Kontrolle unterliegen.

Doch bisher sieht es nicht danach aus. Man vertröstet uns auf Ostern und auf die Experten – in der Hoffnung, dass die Kurve dann „flach genug“ ist. Jedes Land starrt auf „seine“ Zahlen, eine europäische Strategie gibt es nicht.

Vertrauen flösst das nicht ein, selbst wenn die Zahlen (etwas) besser aussehen…

Siehe auch „Wann endet dieser Alptraum – und wie?“ und „Wo bleibt die demokratische Kontrolle?“

P.S. Am Ende dürfte ohnehin eine ganz andere Kurve entscheidend sein: Die der Arbeitslosen und Firmenzusammenbrüche. Es kann nicht mehr lange dauern, bis sie uns präsentiert wird…