Europa ist weiter: So anachronistisch ist die deutsche “Notbremse”

Seit Tagen geht die Zahl der Corona-Neuinfektionen in den meisten EU-Ländern zurück. Gleichzeitig beschleunigt sich die Impfkampagne, was den Schutz der vulnerablen Gruppen verstärkt. Egal – Kanzlerin Merkel will dennoch die Maßnahmen verschärfen: Sie zieht die “Notbremse”.

Die Bundesregierung hat eine sogenannte Notbremse auf den Weg gebracht, mit der ab 100 Corona-Fällen pro 100.000 Einwohner automatisch zusätzliche Einschränkungen greifen.

Das Kabinett billigte eine entsprechende Änderung des Infektionsschutzgesetzes. Die jetzt bundesweit einheitlich geltende Notbremse sei “überfällig”, sagte Merkel.

Das ist merkwürdig. Denn fast alle anderen EU-Staaten haben ihre Maßnahmen gelockert bzw. planen dies. Im Nicht-mehr-EU-Land Großbritannien sind sogar schon wieder die Pubs offen.

Die Briten haben die dritte Welle mit der angeblich so gefährlichen “britische Variante” schon im Januar hinter sich gebracht. Auch Portugal, Italien, Österreich und Belgien sind wohl über den Berg.

Natürlich ist weiter Vorsicht geboten. Selbst wenn die Zahl der Neuinfektionen sinkt, ist die Krise auf den Intensivstationen noch nicht überstanden. Doch Deutschland ist ein besonders krasser Ausreißer.

Hier spitzt sich nicht nur die Lage in den Krankenhäusern zu – auch die politische Debatte nimmt eine völlig andere Richtung als im Rest EUropas. Während die anderen lockern, will Merkel verschärfen.

Das hätte sie aber vor Ostern machen müssen – wie die meisten Nachbarländer. Dann wären die Zahlen jetzt auch besser. Zudem sollte die deutsche Regierung von den Erfahrungen ihrer EU-Partner lernen.

Die Inzidenz ist kein verlässlicher Indikator

Die zeigen, dass eine Inzidenz von 100 keine große Aussagekraft hat. Tschechien lockert mit einem Wert von 250! Worauf es ankommt, ist die Tendenz – und die Kapazität des Gesundheitssystems.

Eine andere Lehre ist, dass Schulen auch bei Inzidenzen über 200 offen bleiben können. Dies hat sich in Belgien und Frankreich gezeigt, die ihre Schulen im Winter offen hielten – ohne gravierende Folgen.

Dort hätte man auch lernen können, dass Ausgangsbeschränkungen wenig bis nichts bringen. In Brüssel und Paris werden sie zunehmend ignoriert – oder mit nächtlichen Privatpartys umgangen.

Doch in Berlin weiß man alles besser – nicht nur als die Bundesländer, sondern auch als die EU-Partner. Bleibt zu hoffen, dass Merkel nicht auch noch versucht, ihre “Notbremse” der EU zu verordnen…

Siehe auch “Unruhen in Brüssel: Das sollte es in ganz Europa geben” und “Das Corona-Risiko im Freien ist gering”