“Bürgerdialoge abzulehnen wäre fahrlässig”
Die Spitzenkandidaten bei der Europawahl 2014 waren erst der Anfang. Jetzt ist es Zeit für den zweiten Schritt: europaweite Wahllisten und Bürgerdialoge. Das fordert der SPD-Europaabgeordnete Jo Leinen – ein Interview.
Teil 2 des Interviews, der erste Teil steht hier
Wie sieht es bei den Mitgliedsstaaten aus? Frankreichs Präsident Macron hat sich öffentlich hinter die Europalisten gestellt, wer ist noch dafür?
Die italienische Regierung hat formell im Ministerrat den Antrag gestellt, europäische Listen zu beschließen. Ich bin sicher, dass das auch ein Punkt in den Verhandlungen zwischen Macron und der neuen Bundesregierung über den Neustart der EU wird.
Macron will aber noch mehr – er fordert auch einen Euro-Finanzminister und ein Euro-Parlament. Ist das kompatibel mit Ihren Vorstellungen?
Das Europaparlament ist das Parlament des Euro, da der Euro laut Vertrag die Währung der EU ist. Deswegen brauchen wir kein zweites Parlament neben dem EP. Was wir brauchen, ist eine starke Koordinierung mit den nationalen Parlamenten in der Eurozone, weil die Beschlüsse teilweise unterschiedliche Zuständigkeiten betreffen. Mehr Dialog wäre sicher eine gute Idee, aber kein zweites Parlament!
Kritiker fürchten, dass durch die Reform ein Zweiklassen-System entstehen könnte: die „echten“, europäisch gewählten Europaabgeordneten – und die nationalen Abgeordneten zweiter Klasse.
Nein, denn alle sind demokratisch gewählt. Im Bundestag haben wir ja auch Abgeordnete, die direkt gewählt sind – und solche, die über die Bundesliste kommen. Das hat noch nie jemanden gestört, und es fällt auch nicht auf. So wird das im Europaparlament auch sein. Es wird sogar eine Ehre sein, auf der Europaliste zu kandidieren!
Soll es bei dieser Trennung bleiben, oder könnten irgendwann alle Abgeordneten auf der Europaliste gewählt werden?
Die EU ruht auf zwei Säulen – den Staaten und den Bürgern. Das wollen wir nicht ändern, das duale System kann auf Dauer bestehen bleiben. Wir wollen die Nationalstaaten ja nicht abschaffen, sondern die europäische Demokratie voranbringen.
Nach dem Brexit hat das Europaparlament noch weiter gehende Ziele formuliert. Damals war von einer Neugründung der EU und von einem Reformkonvent die Rede. Was ist daraus geworden?
Der Konvent kommt – wohl nicht mehr vor der Europawahl 2019, aber sicher in der nächsten Legislaturperiode. Denn ein neuer großer Ratschlag mit der Zivilgesellschaft ist nötig, um die Schwachstellen des Lissabon-Vertrags zu beheben, die wir etwa in der Finanzkrise gesehen haben. Wir müssen die EU fit machen für die Zukunft und dabei die Bürgerinnen und Bürger viel mehr als bisher einbeziehen.
Macron hat dazu nationale Bürgerkonvente gefordert, die schon 2018 stattfinden sollen. Auch Juncker wünscht sich eine EU-weite Konsultation. Was halten Sie davon?
Diese Idee, von der lokalen bis zur europäischen Ebene Bürgerdialoge einzuberufen, ist goldrichtig. Europa darf nicht den Experten überlassen bleiben. Ich hoffe, dass der EU-Gipfel im Dezember einen entsprechenden Beschluss fasst. Leider schweigt sich Berlin dazu noch aus. Bürgerdialoge über Europa abzulehnen, wäre fahrlässig! Dazu reicht meine Phantasie nicht aus, dass eine Bundesregierung so etwas verweigert.
Was halten Sie von der Idee, künftig nicht nur den Kommissionspräsidenten, sondern auch alle EU-Kommissare von den Europaabgeordneten wählen zu lassen?
Das hat das Europaparlament schon länger gefordert. Alle EU-Länder sollten „ihren“ Kommissar vor der Europawahl benennen, damit die Personen im Wahlkampfihre Kompetenz beweisen können. Die Bürger wollen nicht die Katze im Sack kaufen! Nur so können wir erreichen, dass aus den Kommissaren eines Tages europäische Minister werden.
Kleopatra
2. November 2017 @ 07:20
Nach Artikel 14 EUV muss der Beschluss über die Zusammensetzung des EP im Rat einstimmig gefasst werden. Deshalb kann jedes einzelne Mitgliedsland, sei es auch noch so klein, einen solchen Beschluss blockieren. Außerdem ist die sogenannte „degressiv proportionale“ Aufteilung der Sitze dort festgelegt; und schon die macht nur Sinn, wenn die Wahl nach Mitgliedstaaten getrennt stattfindet.
Michael
1. November 2017 @ 19:48
Mit dem Vorschlag :
„Alle EU-Länder sollten „ihren“ Kommissar vor der Europawahl benennen, damit die Personen im Wahlkampf ihre Kompetenz beweisen können.“
wäre nebenbei endgültig klargestellt, dass die Kommissare in erster Linie Vertreter der Länder sind, die sie benennen.
Ute Plass
1. November 2017 @ 17:10
Was denkt Jo Leinen über das hier diskutierte Losverfahren:
http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-146047999.html ?
Auszug aus dem Interview:
“Van Reybrouck:
Wenn die EU klug wäre, würde sie Geld in die Hand nehmen und in die Demokratie investieren. Und zwar auf der nationalen Ebene.
SPIEGEL: Das heißt?
Van Reybrouck: Ein Gedankenexperiment: Angenommen, die EU würde in jedem europäischen Land per Losverfahren tausend Menschen auswählen und ihnen die Frage stellen: Wo sehen Sie die EU im Jahr 2030? Finden Sie die zehn Punkte, die für Ihr Land in der EU wichtig sein werden. Und diesen tausend Menschen würde man ein Budget und genug Zeit geben, dass sie Experten befragen und miteinander sprechen können. Ein Lernprozess, den man transparent machen und im Internet dokumentieren könnte. Dann würden bei 28 Ländern am Ende 280 Punkte herauskommen. Nehmen wir die Überschneidungen weg, bleiben vielleicht 150 Punkte übrig. Darüber könnte man dann abstimmen lassen. Es könnte eine Wahl sein, bei der man jeden Wähler fünf Themen auswählen lässt. Wo soll Europa hin? Nach so einem Prozess sähe die EU ganz sicher anders aus. “