Brüssel vs. London: Wer schreibt die Regeln?
Die EU ersetzt Politik durch Regeln – am liebsten für die ganze Welt und auf alle Ewigkeit. Doch nun widersetzt sich London diesem Prinzip. Wer wird sich durchsetzen?
„Ich sehe keine Notwendigkeit, uns an eine Vereinbarung mit der EU zu binden“, sagte der britische Premier Johnson in seiner ersten Grundsatzrede nach dem Brexit in London.
„Wir werden die vollständige souveräne Kontrolle über unsere Grenzen, über Einwanderung, Wettbewerb, Subventionsregelungen, Lieferungen, Datenschutz wieder herstellen.“
Demgegenüber betonte „unser“ Verhandlungsführer Barnier, dass die EU-Regeln das Maß aller Dinge seien – auch bei dem nun geplanten Freihandelsabkommen mit Großbritannien.
London müsse sich zu einem „Level playing field“ – also gleichen Bedingungen – in der Handels-, Steuer, Sozial- und Umweltpolitik bekennen und EU-Gerichte als letzte Schiedsinstanz anerkennen.
Johnson machte sich über diesen Ansatz lustig. Frankreich zahle doppelt so viele Staatsbeihilfen wie sein Land, Deutschland sogar das Dreifache, sagte er.
Der britische Mindestlohn sei höher als in den meisten EU-Ländern, auch das Plastikverbot gehe weiter als auf dem Kontinent. London werde sich von Brüssel keine Vorschriften machen lassen.
Da hat der Mann einen Punkt. UK ist zwar kein Musterknabe – aber bei den Steuern liegt Irland niedriger, bei den Sozialleistungen muss man nur nach Bulgarien oder Rumänien schauen.
So mustergültig, wie sich die EU immer darstellt, ist sie leider nicht.
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Und wer sagt eigentlich, dass Brüssel auf Zölle und Quoten nur dann verzichten kann, wenn London alle EU-Regeln übernimmt?
Wenn nicht alles täuscht, zeigt Kommissionschefin von der Leyen gerade in Geheimverhandlungen mit den USA, dass auch anders geht.
Sie will den europäischen Markt für US-Produkte öffnen, ohne dass sich die USA an alle EU-Regeln halten müssten.
Offenbar sind sogar ein paar Extrawürste geplant…
Siehe auch „Brexit: Der Graben wird tiefer“ und Nach dem Brexit: Die (See-)Schlacht beginnt
Watchlist
Bricht die EVP ihr Schweigen zu Viktor Orban? Dies dürfte sich am zweiten und letzten Tag des kleinen Parteitags der konservativen Parteienfamilie zeigen. Parteichef Tusk ist sauer, weil CDU und CSU weiter zu Orban stehen – nun fordert er einen Sonderparteitag, um der EVP eine neue Orientierung zu geben. – Mehr dazu hier
Was fehlt
- EU-Budget: Merkel und Kurz bekräftigen restriktive Linie im Streit um EU-Finanzplan – Welt
- Polen: Macron will „Weimarer Dreieck“ wiederbeleben – Deutschlandradio
- Wirtschaftspolitik: Deutschland macht erneut weltgrößten Exportüberschuss – Spiegel
- Erweiterung: EU to publish new enlargement method – EU Observer
- Handelspolitik: EU turns to alchemy to conjure up trade deal with Trump – Politico
Freiberufler
5. Februar 2020 @ 16:47
„Großbritannien wies im Jahr 2018 mit der Europäischen Union (EU) ein Handelsbilanzdefizit von rund 107,4 Milliarden Euro auf“
https://de.statista.com/statistik/daten/studie/823158/umfrage/handelsbilanz-von-grossbritannien-mit-der-eu/
Doch Vorsicht:
„Es ist umstritten, ob bei der Verletzung des eigenen Körpers Endorphine (Glückshormone) ausgeschüttet werden, die den Schmerz lindern“ (Wikipedia)
Hans-Jürgen Gebker
4. Februar 2020 @ 14:51
„EU ersetzt Politik durch Regeln“ Geht’s noch? Die Standards und Gesetze in der EU sind durch jahre-, wenn nicht jahrzehntelanges, politisches und demokratisches Ringen entstanden. Und das nennt man Politik. Warum diese Polemik? Ich lese Ihren Blog sehr gerne. Aber Ihre zunehmende Verbitterung in der Berichterstattung enttäuscht mich. Sollen wir die Regeln jetzt auf’s Spiel setzen, weil sie einer Minderheit in einem einzigen, noch dazu ehemaligen, Mitgliedsland nicht passen? Mir fehlen die Worte. Wie hätten Sie es denn gerne? Dem Demagogen aus London alles opfern? Á la Bolsonaro? Á la Trump? Alles wegwerfen? Nur noch das Recht des Stärkeren? Das wir nicht alle Regeln werden durchsetzen können, ist klar. Aber versuchen müssen wir es.
ebo
4. Februar 2020 @ 16:33
Warum die Aufregung? Die EU ist ein regelbasiertes System, sie führt Politik in Regeln über. In der Handelspolitik gilt dies ebenso wie in der Finanz- und Geldpolitik, denken Sie nur an die Maastricht-Kriterien und die Defizitregeln. Mit dem Brexit ist UK aus diesem rgelbasierten System ausgetreten – und es ist völlig normal, dass Johnson sich nicht sofort wieder den Vorgaben aus Brüssel unterwerfen will. Eine andere Frage ist, ob und wieweit die EU den Briten Marktzugang gewährt, wenn die europäischen Regeln und Standards nicht eingehalten werden. Genau darum kreist der Konflikt. Wobei zu bedenken ist, dass die EU nicht allein ist – auch die USA werben um UK. Außerdem haben europäische, vor allem deutsche, Unternehmen ein großes Interesse am britischen Markt. Deshalb werden „wir“ in der Tat nicht alle Regeln umsetzen können. Manches wird auch politisch entschieden – und ja, das finde ich gut so!
Peter Nemschak
4. Februar 2020 @ 08:25
Vermutlich wird sich das größere ökonomische Gewicht letztlich durchsetzen, d.h. die EU.