Brexit-Schlacht: Wo war EUropa?
Es war eine der längsten und brutalsten Wahlschlachten der EU-Geschichte. Doch wo war eigentlich Europa in der Brexit-Kampagne? Wo war die viel beschworene europäische Öffentlichkeit?
Sieht man von wenigen Ausnahmen ab, so lautet die Antwort: Nirgendwo! Abwesend! Die EU-Politiker haben geschwiegen, als ginge sie die Schicksalswahl in UK nichts an, als dürfe sie sie nicht angehen.
Denn Premier Cameron hatte sich jede “Einmischung” verbeten. Der Mann, der die EU beim Sondergipfel im Februar für seine Zwecke eingespannt hat, führte den Wahlkampf so, als gebe es Brüssel gar nicht.
Es gab nur “Great Britain” und die Frage, wo es “better off” ist: drinnen oder draußen. Die EU hat nicht einmal den Versuch unternommen, diese egoistische und nationalistische Kampagne zu öffnen.
Die Brexit-Schlacht wurde so zum Gegenbild des Grexit-Dramas vor einem Jahr: Da durfte sich jeder Provinz-Politiker in griechische Belange einmischen, vor allem die Deutschen führten das große Wort.
Bei den Briten hingegen, die Kanzlerin Merkel offenbar noch braucht, hieß das oberste Gebot: Schweigen. Berlin und Brüssel ließen Cameron alles durchgehen, sogar die Abschottung gegen Flüchtlinge.
Letztlich haben die EU-Politiker so gehandelt, als hätten sie sich selbst schon aufgegeben, und als sei UK schon draußen. Damit machen sie sich mitschuldig am Niedergang der europäischen Idee…
Claus
22. Juni 2016 @ 08:46
Ich lese: „Letztlich haben die EU-Politiker so gehandelt, als hätten sie sich selbst schon aufgegeben, und als sei UK schon draußen. Damit machen sie sich mitschuldig am Niedergang der europäischen Idee…“
Diesem Schluss stimme ich nicht zu. Aus meiner Sicht hat sich die Brüsseler EU in ihrem heutigen Verständnis weit von der „europäischen Idee“ entfernt, die im Sinne ihrer Gründungsväter aus einem Zusammenschluss von in Freundschaft verbundenen, souveränen („Vater“)-Ländern bestehen sollte und nach 2 verheerenden Kriegen ein ehrsamer und vernünftiger Ansatz war
Allerdings: Mit zunehmender demokratisch überwiegend nicht legitimierter Machtanmaßung seitens der EU-und ihrer „Berufseuropäer“ haben wir heute mehr Verwerfungen zwischen den Mitgliedsstaaten als dies in der Nachkriegszeit und zu Zeiten der EWG je der Fall war.
Ich denke, ein Befreiungsschlag morgen täte den Briten gut und setzte sie wieder in die Lage, die Spielregeln in ihrem Land nach eigenen Vorstellungen zu gestalten. Und versetzte der EU-Administration in Brüssel einen hilfreichen Stimulus, über die eigene Rolle nachzudenken. Andernfalls könnte Frankreich bald folgen.
Peter Nemschak
22. Juni 2016 @ 09:22
Jahrelang – im Grunde bis zur Finanzkrise 2008 – wurde die zunehmende Integration Europas von den Bürgern stillschweigend billigend zur Kenntnis genommen oder mangels Interesse überhaupt ignoriert. Die politischen Eliten stellten die Weichen und der Zug mit der europäischen Freizeitgesellschaft ratterte, unbemerkt von seinen Fahrgästen, locker darüber. Auf einmal soll alles anders sein? Inzwischen sind Globalisierung und Roboterisierung weiter fortgeschritten, Russland und China machen sich zunehmend auf der politischen, China auch auf der wirtschaftlichen Weltbühne bemerkbar. Da wäre die Fortsetzung des europäischen Wegs in Richtung föderaler Bundesstaat eigentlich logisch. Die Sorge um eine ungewisse Zukunft sollte Europa zusammenrücken lassen. Man fragt sich, welche Logik manche Europäer umtreibt, wenn man überhaupt von Logik sprechen kann. Was ist so erstrebenswert am Nationalstaat? Ist die nationale Bindung bei den Menschen stärker als die soziale Zugehörigkeit? Eigentlich sollten die Menschen der Enge des kleinkarierten, sich ständig wiederholenden nationalen Gezänks ihrer Politiker längst überdrüssig sein und nach Alternativen Ausschau halten.
Skyjumper
22. Juni 2016 @ 10:09
“Was ist so erstrebenswert am Nationalstaat? Ist die nationale Bindung bei den Menschen stärker als die soziale Zugehörigkeit?”
Wenn man in den Spiegel schaut beantwortet sich die Frage doch eigentlich von selbst.
+ die soziale Ader gegenüber der Familie ist ausgeprägter als gegenüber dem Nachbarn
+ die soziale Ader gegenüber dem Dorf ist ausgeprägter als gegenüber dem Bundesland
+ die soziale Ader gegenüber dem Nationalstaat ist ausgeprägter als gegenüber einem supranationalen Verbund.
Je dichter uns ein Thema rückt um so eher sind wir bereit uns damit zu beschäftigen, es zu lösen, wollen uns aber auch nicht dreinreden zu lassen. Das wird sich im Grundlegenden auch nicht ändern. Der Horizont ist weiter geworden, das Bewußtsein gegenüber dem entfernten Mitmenschen hat genauso zugenommen wie das Bewußtsein für grenzüberschreitende Probleme. Aber die Wertung/Reihenfolge der Betrachtung wird sich nicht ändern.
S.B.
22. Juni 2016 @ 11:50
@Peter Nemschak: Das sehe ich genauso wie skyjumper. Der eigene Stamm geht schon aus genetischen Gründen vor und zwar in der Reihenfolge wie genannt. Das hat mit kleinkariert nichts zu tun. Dieser Mechanismus mag in Schönwetterzeiten (= Aufschuldungsphase) vernachlässigt werden. Abgeschafft ist er damit nicht. Bei Schlechtwetter (= Entschuldungsphase) greift er wieder voll. Dann heißt es zurück zum eigenen Stamm. Auch beim Menschen geht es letztlich nur ums (bestmögliche) Überleben. Die EU ist das beste Beispiel dafür. Andernfalls müsste es Ländern wie GR, PT, SP und Italien in der Krise genauso gut gehen, wie D oder NL. Das wäre nur mittels einer Transferunion machbar, in der die wohlhabenden Länder mit den armen Ländern weitestgehend teilen. Tun sie aber nicht.
Im Übrigen sind nationale Bindung und soziale – besser: kulturelle – Zugehörigkeit nicht zu trennen. Denn die kulturell und damit auch sozial im Wesentlichen gleiche Ausrichtung ist doch gerade Grundlage einer Nation. Beides bedingt sich also.
Skyjumper
22. Juni 2016 @ 13:34
@ Claus
“…….. haben wir heute mehr Verwerfungen zwischen den Mitgliedsstaaten als dies in der Nachkriegszeit und zu Zeiten der EWG je der Fall war…………………………Andernfalls könnte Frankreich bald folgen.”
Njein zum 1. zitierten Satz. Mit ein klein wenig Interpretationsfreiheit haben wir heute wieder die gleichen Verwerfungen wie vor dem EWG. Denn vor der Europäischen Wirtschaftsunion gab es bereits einen Vorgängerversuch der europäischen Einigung. Dieser 1. Versuch hatte die politische Einigung über den Kunstgriff einer gemeinsamen europäischen Armee zum Ziel. Die EVG scheiterte aber an der Nichtratifizierung im französischen Parlament.
Das gemeinsame Wirtschaftshandeln EWG ist also bereits der 2. Versuch, und heute, wo wir wieder an der Stelle des Souveränitätsverzichts angelangt sind, zeichnet sich erneut das Scheitern ab.
Im historischen Kontext gesehen müssen wir es aus deutscher Sicht übrigens als einen unglaublichen Glücksfall betrachten wie sich die EWG (und auch die EU) entwickelt hat. Monnet und Schuman hatten derartiges nicht wirklich im Sinn als sie (primär Monnet) ihren Plan einer europäischen Einigung entwickelten. In solchen Überlegungen steckt allerdings sehr viel Interpretation und Auslegung drin. Unterschiedliche Historiker kommen da zu diametralen Einschätzungen.
Peter Nemschak
22. Juni 2016 @ 08:15
Eine Wahlwerbung durch die europäischen Institutionen wäre als Einmischung in die nationalen belange Großbritanniens empfunden worden. Haben wir überhaupt eine europäische Öffentlichkeit außerhalb der Politeliten? Wir haben noch nicht einmal echte europäische Parteien mit einer europäischen Agenda. Wie viele Bürgerinnen und Bürger interessieren sich laufend für europäische Fragen? Selbst auf nationaler Ebene ist die Partizipation abseits von Wahlen sehr überschaubar.