Brexit, Puigdemont & Co.: Das Parlament macht sich angreifbar
Im Europaparlamentent werden Stühle gerückt. Am Montag zog der katalanische Abgeordnete Puigdemont in Straßburg ein, im Januar müssen 73 britische MEP ihre Plätze räumen. Geht da alles mit rechten Dingen zu?
Zweifel sind erlaubt, wenn man sich das Hin und Her um die drei gewählten katalanischen Abgeordneten ansieht. Erst wurden sie auf Druck der spanischen Regierung von der Annahme ihres Mandats ausgeschlossen; Ex-Parlamentspräsident Tajani ließ sie nicht einmal ins Parlamentsgebäude.
Dann wurden sie, nach einer Entscheidung des höchsten EU-Gerichts, kurzfristig eingelassen. Doch dies rief die spanische Justiz auf den Plan, die die Immunität des EU-Abgeordneten Junqueras erneut aufheben ließ. Parlamentspräsident Sassoli folgte Madrid ohne zu murren – aber auch, ohne sich zu erklären.
Nun stehen viele Fragen im Raum. Wer entscheidet eigentlich, wer Immunität genießt – die Wähler, das Europaparlament oder die nationale – in diesem Fall spanische – Justiz? Steht Spanien über dem Europarecht und dem EuGH? Hat der Parlamentspräsident keinen Entscheidungsspielraum?
Die Katalanen sind überzeugt, dass Sassoli falsch gehandelt habe und die spanische Justiz EU-Recht breche. Dieser Meinung sind auch einige grüne und linke Abgeordnete. Doch die Mehrheit der EU-Parlamentarier verhält sich merkwürdig passiv – dabei macht sich das Parlament angreifbar.
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Merkwürdig mutet auch das Arrangement zum Brexit an. Wenn der britische EU-Austritt wie geplant Ende Januar kommt, müssen 73 britische Abgeordnete ihre Plätze räumen. Doch die Sitze fallen nicht weg, es rücken 27 nach, um dem Grundsatz der “degressiven Proportionalität” stärker Rechnung zu tragen.
Diese 27 Sitze werden in folgender Weise aufgeteilt: Frankreich (+5), Spanien (+5), Italien (+3), die Niederlande (+3), Irland (+2), Schweden (+1), Österreich (+1), Dänemark (+1), Finnland (+1), die Slowakei (+1), Kroatien (+1), Estland (+1), Polen (+1) und Rumänien (+1). Kein Mitgliedstaat wird Sitze verlieren.
So werde sichergestellt, dass die Sitze den Mitgliedstaaten „in objektiver, fairer, dauerhafter und transparenter Weise“ zugeteilt werden, meint das Europaparlament. Doch dauerhaft ist dieses Verfahren offenbar nicht, da es erst jetzt verspätet zum Einsatz kommt, und transparent schon gar nicht.
Welcher Wähler wußte im Mai 2019 um diese Regeln? Welche Auswirkungen werden sie auf die Machtverteilung haben? Wir wissen es nicht. Nach dem Gezerre um die Spitzenkandidaten ist dies schon der dritte Vorfall, der das EU-Parlament angreifbar macht und die europäische Demokratie schwächt.
Mehr zum Europaparlament hier
Watchlist
Wie will Kommissionspräsidentin von der Leyen ihren “Green Deal” finanzieren? Das will sie am Dienstag in Straßburg erklären. Ein erster Entwurf, der am Wochenende durchgesickert war, hat mehr Fragen aufgeworfen als beantwortet. Insgesamt geht es um rund eine Billion Euro bis 2030 – und noch viel mehr bis 2050… – Mehr hier
Was fehlt
- Berateraffäre: Von der Leyen löschte alle SMS auf ihrem Diensthandy – Der Spiegel
- Nordirland: Northern Ireland Assembly restored after three years – EU Observer
- Nachhaltigkeit: EU-Parlamentarier fordern einheitliche Ladegeräte – Zeit online
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Kleopatra
14. Januar 2020 @ 14:31
Wann ein Austritt aus der EU wirksam wird, lässt sich nicht mit letzter Sicherheit planen, deshalb kann man nichtviel anders arbeiten als es getan wurde. Man hätte allenfalls die Auffüllung des Parlaments bleiben lassen können (dann hätte es bis zur nächsten Wahl weniger Abgeordnete), aber dass der Austritt während der Legislaturperiode die relative Stärke der Parteien verschiebt, ist nicht zu verhindern. Da kaum ein Wähler außerhalb Großbritanniens eine andere Partei gewählt hätte, wenn GB nicht austreten bzw. doch austreten würde, kommt allenfalls eine neue Vertrauensabstimmung über die Kommission in Frage.
Peter Nemschak
14. Januar 2020 @ 08:24
Die letzte Entscheidung liegt beim EU-Gericht. Niemand kennt die Auswirkungen, auch der Wähler nicht, und es stört ihn nicht weiter. Das EU-Parlament ist für den Durchschnittswähler in der Wahrnehmung entfernter als sein jeweiliges nationales Parlament. Es gibt nun einmal keine europäischen Parteien, mit denen er sich identifizieren könnte.
Kleopatra
14. Januar 2020 @ 08:20
Über die Immunität eines Europaabgeordneten entscheidet das EP, allerdings nach den einschlägigen Vorschriften des Staates, in dem der Abgeordnete gewählt wurde. Wenn Junqueras Abgeordneter ist, kann Spanien die Aufhebung seiner Immunität beim EP beantragen. Korrekterweise muss das EP ihn anerkennen und sich dagegen verwahren, dass Spanien ihn nicht nach Belgien/Frankreich ausreisen lässt (denn wenn gilt, dass er seit der Bekanntgabe der Wahlergebnisse Abgeordneter war, hätte der Prozess gegen ihn ohne Aufhebung seiner Immunität gar nicht geführt werden, also auch zu keiner Verurteilung führen können). Dass der Kasus politisch empfindlich ist, ist andererseits klar; aber wenn das EP hier den Schwanz einzieht, gefährdet es seine Legitimität insgesamt.
Die Verteilung der Sitze auf die Mitgliedstaaten wird von diesen vereinbart; und das Ergebnis war vor der Wahl bekannt, und ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Wähler seine Präferenz für eine Partei dadurch hat beeinflussen lassen. Dass die Änderungen der Sitzzahl nach der Wahl wirksam wurden, ändert nichts daran, dass sie vorher vereinbart waren und dass jeder, den es interessierte, sich darüber informieren konnte.
ebo
14. Januar 2020 @ 09:48
Ganz so einfach ist die Sache nicht. Das Parlament hat zwar schon der Wahl festgelegt, wie die Sitze nach dem Brexit zu verteilen sind. Doch wann der Brexit kommen würde, wußte bei der Europawahl niemand. Zu Beginn des Wahlkampfs sah es noch so aus, als würden keine britischen Abgeordneten mehr einziehen, dann kamen sie doch. Nun gehen sie – mit weit reichenden Folgen. Die Fraktionen der Sozialdemokraten und der Grünen werden geschwächt, die Konservativen und Liberalen gestärkt. Das war bei der Wahl nicht absehbar. Streng genommen müssten die freiwerdenden britischen Sitze nun in einer Nachwahl neu vergeben werden.