Braucht EUropa eine digitale Plattform?

Der EU fehlt nicht nur Souveränität, sondern auch eine europäische Öffentlichkeit. Beide Probleme ließen sich mit einer digitalen Plattform beheben, meint der Politikberater J. Hillje. Brauchen wir das wirklich?

Ein digitales, öffentlich finanziertes und gemeinwohlorientiertes soziales Netzwerk: So definiert Hillje seine „Plattform Europa“ in dem gleichnamigen Buch (Dietz-Verlag). Diese Plattform soll nicht nur den Nationalismus überwinden, sondern auch für eine „lebendige Demokratie“ sorgen.

Eine verlockende Idee – doch leider greift sie zu kurz. Denn für eine europäische Demokratie braucht es viel mehr als eine – analoge oder digitale – Öffentlichkeit. Es braucht einen europäischen „Demos“ (ein Volk!?) sowie demokratische Institutionen, die legitim und souverän agieren können.

Nichts von alldem haben wir, wie die Europawahl 2019 gezeigt hat. Die Brüsseler EU-Institutionen haben sich gegenseitig behindert, das neu gewählte Europaparlament hat sich als handlungsunfähig erwiesen, und der Rat hat die Abgeordneten am Ende schlicht übergangen.

Nun ließe sich zwar argumentieren, dass all dies nur passieren konnte, weil es keine europäische Öffentlichkeit gibt. Hillje glaubt, dass Nationalisten und Populisten vom aktuellen, national organisierten Mediensystem begünstigt werden. Das Internet habe alles noch schlimmer gemacht.

Doch es waren ja eben nicht die Populisten, sondern etablierte Politiker vom Schlage Macrons oder Merkels, die das Europaparlament übergangen haben. Nicht einmal im öffentlich-rechtlichen Rundfunk, der Hillje offenbar als Modell vorschwebt, hat es einen Aufschrei gegeben.

Das zeigt, dass eine „Plattform Europa“ an den Problemen, wie wir sie bei dieser Europawahl gesehen haben, nicht viel geändert hätte. Hillje will den medialen Überbau ändern – dabei sitzt das Problem in den Nationalstaaten und in den anachronistisch gewordenen EU-Institutionen.

Auch sonst ist unklar, worin der Vorteil eines „europäischen“ Facebook oder Youtube liegen sollte. Wirkmächtig könnte es nur werden, wenn es die Vorherrschaft der englischen Sprache brechen würde. Doch wie soll das gehen – bei zwei Dutzend europäischen Sprachen?

Mehr Erfolg verspricht der Ansatz, europäische Standards für das Internet zu setzen – und „europäische Champions“ auch im Internet zu fördern. Also nicht eine „Plattform Europa“, sondern ganz viele, wobei von vornherein auf sprachliche und inhaltliche Vielfalt geachtet werden müsste.

Im Streit um die Copyright-Reform haben wir jedoch gesehen, wie schwer ein solcher Ansatz umzusetzen ist. Das Wort führten die großen Verlage, vor allem Deutschland und die CDU haben sich im Ringen mit der Netzgemeinde und den großen US-Konzernen durchgesetzt.

Die Netzgemeinde hadert mit Brüssel

Die kritische Öffentlichkeit zog den Kürzeren. Dies führte gerade bei der proeuropäisch gesinnten Netzgemeinde, auf die Hillje sein Buch weitgehend zugeschnitten hat, zu massiven Frust. Aktivisten und Kolumnisten wie Sascha Lobo wandten sich sogar demonstrativ von der EU ab.

Dennoch lohnt es sich auch nach der Europawahl noch, Hilljes Buch zu lesen. Es fügt der ziemlich altbackenen und festgefahrenen Debatte über die europäische Öffentlichkeit eine neue, digitale Dimension hinzu. Über Begriffe wie „digitale Souveränität“ lässt sich trefflich streiten.

Allerdings nicht mit der scheidenden EU-Kommission. Die hat die Debatte über ein „europäisches Internet“ längst aufgegeben und versucht, das World Wide Web immer mehr an die kurze Leine zu legen. Schuld daran ist nicht zuletzt ein deutscher Kommissar…

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