Aufgelesen: Die EZB riskiert den “Overkill”

In Brüssel hat die Urlaubszeit begonnen. Wir nutzen das „Sommerloch“, um lesenswerte Beiträge anderer Blogs und Medien zu präsentieren. Heute ein Beitrag zur Wirtschaftskrise in Deutschland und der Geldpolitik der EZB.

Die Europäische Zentralbank (EZB) fährt die Wirtschaft gegen die Wand, analysiert Heiner Flassbeck. (Im Original englisch, wir haben den Text ins Deutsche übersetzt)

Die wirtschaftliche Lage in Deutschland ist schlecht, sehr schlecht sogar. Es gibt Indikatoren wie den sogenannten Markit PMI, die für die deutsche Industrie ein ähnlich verheerendes Szenario vorhersagen wie zur Zeit der großen globalen Finanzkrise 2008/2009 oder zur Zeit des Corona-Schocks im Jahr 2020. Auch der ifo-Index brach im Juli massiv ein. Der kürzlich veröffentlichte Bank Lending Survey der Europäischen Zentralbank (EZB) zeigt, wie stark sich die Straffung der Geldpolitik bereits auswirkt; die Kreditvergabe an Unternehmen sinkt rapide. Doch die Verantwortlichen in Regierung und Zentralbank schauen weg. Sie wollen nicht sehen, was passiert, weil sie nicht zugeben wollen, wie grundlegend sie sich mit ihren Einschätzungen und Prognosen geirrt haben.

Es beginnt beim Bundeswirtschaftsminister, der die Realität immer noch nicht zur Kenntnis nehmen will. In seinem jüngsten Monatsbericht schreibt er, die aktuellen Daten zu den Wirtschaftsindikatoren deuteten auf eine “moderate konjunkturelle Grunddynamik nach einer spürbaren Abkühlung zum Ende des ersten Quartals” und “auf eine allmähliche Erholung der Industriekonjunktur in den kommenden Monaten” hin. Das ist keine Augenwischerei mehr, das sind die zugekniffenen Augen, mit denen kleine Kinder glauben, eine akute Gefahr vertreiben zu können.

An anderen verantwortlichen Stellen fehlt es ebenso an Sachverstand, um die Lage realistisch einzuschätzen und entsprechende Gegenmaßnahmen zu ergreifen: Die EZB, die mit ihrer Politik die wirtschaftliche Situation in den Mitgliedsländern entscheidend prägt, ist, wie wir schon mehrfach gezeigt haben, durch ihre bisherigen Fehleinschätzungen blockiert.

Weil die EZB-Verantwortlichen kollektiv der Überzeugung sind, “Inflation” bekämpfen zu müssen, ohne Rücksicht auf die konjunkturelle Lage und ohne Rücksicht auf die Ursachen der Preissteigerungen, ist der Nachfrageschock durch die massiven Rohstoffpreissteigerungen zu einer Abwärtsspirale für die europäische Wirtschaft geworden: An die Stelle der ursprünglichen Konsumschwäche treten nun die Unternehmensinvestitionen in Bau und Industrie als treibender Faktor.

Auch nachdem längst klar ist, dass es seit Ende letzten Jahres keinen Inflationsdruck mehr gibt, sondern eine weltweit zu beobachtende deflationäre Tendenz, hören die Verfechter einer kompromisslosen Inflationsbekämpfung in der EZB und in den nationalen Notenbanken nicht auf, vor einer Verfestigung der Verbraucherpreisinflation zu warnen. Die Frühindikatoren wie Erzeugerpreise oder Großhandelspreise, die bereits Deflation signalisieren, werden geflissentlich ignoriert, weil man nicht zugeben will, dass man falsch liegt. Die EZB, die im März dieses Jahres noch gesagt hatte, dass die industriellen Erzeugerpreise als Frühindikator für die Verbraucherpreise “ein bewährtes und zentrales Element der Analyse der EZB hinsichtlich des Leitungsdrucks” seien, erwähnt sie nun nicht mehr.

Obwohl es in Europa trotz Reallohnverlusten offensichtlich keine gefährliche Beschleunigung des Lohnanstiegs gab und gibt, spielt die EZB zunehmend die Karte “Risiko durch Lohnerhöhung”. Das ist perfide, denn es war die EZB, die vorschnell temporäre, externe Preissteigerungen zur “Inflation” erklärt hat. Trotz dieser gravierenden Fehleinschätzung waren die meisten europäischen Gewerkschaften jedoch nie stark genug, um erhebliche Reallohnverluste zu vermeiden. Einmalzahlungen waren ein geeignetes Mittel, um Reallohnverluste (insbesondere für die unteren Lohngruppen) zu begrenzen, ohne die Löhne an die “Inflation” anzupassen. Jetzt die Lohnentwicklung als die eigentliche Inflationsgefahr hochzuspielen, ist nur ein weiterer verzweifelter Versuch, von den eigenen Versäumnissen abzulenken.

Weiterlesen bei “flassbeck economics“. Siehe auch unseren Open Thread zur Wirtschaftskrise. Dort könnn Sie auch kommentieren!