Angst vor Unabhängigkeit

Kann sich Europa aus den Fängen des amerikanischen “Big Brother” befreien? Können die Euroretter auf den IWF verzichten? Seit Wochen tobt über diese Fragen eine leidenschaftliche Debatte, doch ohne greifbares Ergebnis. Sind die Europäer am Ende noch gar nicht reif für eine eigenständige Politik? – Ein Gastbeitrag.

Von Stefan L. Eichner

Seit Wochen wird in Europa und besonders in Deutschland heftig über die politischen Konsequenzen gestritten, die aus den Enthüllungen des Ex-US-Geheimdienstlers Edward Snowden zu ziehen sind. Dabei geht es um die massive Internet- und Telefonüberwachung durch den britischen und insbesondere amerikanischen Geheimdienst – Government Communications Headquarters (GCHQ) bzw. National Security Agency (NSA) – sowie um gezielte Abhörmaßnahmen der NSA in Gebäuden der EU.

Mit Konsequenzen drohten den USA nur wenige. Einige Europa-Parlamentarier und Oppositionspolitiker taten es und auch die für Justiz und Grundrechte zuständige EU-Kommissarin Viviane Reding, die zugleich Vizepräsidentin der Europäischen Kommission ist, drohte: “Wir können nicht über einen großen transatlantischen Markt verhandeln, wenn der leiseste Verdacht besteht, dass unsere Partner die Büros unserer Verhandlungsführer ausspionieren. Die amerikanischen Behörden sollten alle solche Zweifel schleunigst ausräumen.

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Die europapolitische Realität ist, dass Europapolitik immer noch hauptsächlich auf Regierungsebene der Nationalstaaten gemacht wird, sprich in Berlin, London, Paris usw., egal, ob es sich dabei nun um amerikanische Geheimdienstaktivitäten in Europa, die Bankenunion, oder um die europäische Schuldenkrise dreht.

Die Bereitschaft, mit den USA über deren Einfluss und Aktionsspielraum in Europa zu streiten, ist in Europa insgesamt gering ausgeprägt bis nicht existent. Was die Enthüllungen von Edward Snowden eigentlich so skandalös macht, ist, dass sie zeigen, wie groß dieser Einfluss und Aktionsspielraum tatsächlich ist und wie peinlich berührt die politischen Entscheider in Europa auf einmal herumeiern, um nicht zugeben zu müssen, dass sie dies zulassen und de facto nicht Herr im eigenen europäischen Haus sind.

Europäisches Krisenmanagement ohne den IWF?

Vor diesem Hintergrund ist auch der jüngste Vorstoß von EU-Kommissarin Viviane Reding zu bewerten. Sie will die in den europäischen Krisenländern wegen ihrer unnachgiebigen Haltung bei der Durchsetzung der höchst umstrittenen austeritätspolitischen Maßnahmen verhasste Troika abschaffen und beim Krisenmanagement künftig, das heißt in ein paar Monaten schon, auf die Unterstützung des Internationalen Währungsfonds (IWF) verzichten.

Sie begründete das damit, dass Europa inzwischen „die nötigen Fähigkeiten“ besitze, „um in Wirtschafts- und Finanzfragen die entsprechenden Analysen durchzuführen“ und die Europäische Kommission zudem besser auf sozialen Ausgleich hinwirken könne, weil der EU-Vertrag sie dazu verpflichte, auf eine soziale Marktwirtschaft hinzuarbeiten.

Ferner hält sie es für ein unzumutbar, dass vergleichsweise ärmere IWF-Mitglieder wie Brasilien und Indien Griechenland helfen müssten. „Wir sollten unsere europäischen Probleme in Europa lösen“, wird Viviane Reding zitiert und spricht damit aus, was andere (mich selbst eingeschlossen) allerdings schon 2010 vor allem auch mit Blick auf die nervösen Finanzmärkte als Grundlinie für das Management der Griechenlandkrise gefordert hatten.

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Europa ist heute weniger europäisch als vor der Krise

Auf den ersten Blick haben der Abhörskandal und das Management der europäischen Schuldenkrise nichts miteinander zu tun. Doch in der Gesamtschau wirkt das Verhalten der Europäer in der Frage des Krisenmanagements ebenso unselbständig und orientierungslos wie beim Abhörskandal. Es wirkt, als wollten sie von jemandem an die Hand genommen werden. Und gerade jetzt wirkt es so, als wäre Washington der europapolitische Orientierungspunkt.

Das sind Europas Top-Entscheider selbst schuld.

Sollten sie geglaubt haben, es würde nie jemandem auffallen, dann haben sie sich geirrt. Edward Snowden hat offensichtlich nicht nur die Geheimdienstaktivitäten enthüllt.

Worüber man sich spätestens jetzt auch nicht mehr wundern muss, ist, dass sich die Bürger Europas nicht als Europäer fühlen. Wie sollten sie auch, wenn sich nicht einmal die Top-Entscheider Europas wie Europäer verhalten!? Europa ist infolgedessen heute weniger europäisch als vor der Krise.

Es mag vielleicht manchem ein bisschen zu pathetisch klingen, aber Europa ist offensichtlich nicht reif für seine Unabhängigkeitserklärung – und Hunde, die bellen, beißen bekanntlich nicht.

Aber immerhin, ein paar Hunde haben wenigstens schon einmal gebellt. Das ist doch was. Es ist nur die Frage, wie lange sie noch etwas haben, für das es sich zu bellen lohnt.

Dies ist die gekürzte Fassung eines Beitrags aus Stefan L. Eichner’s Blog. Der Originaltext wurde unter dem Titel “Europa ohne NSA-Überwachung, Troika ohne IWF ? Nicht reif für eine europäische Unabhängigkeitserklärung” hier veröffentlicht.

Zu diesem Thema siehe auch “Das Spiel des Überlebens” und “Bestraft Big Brother”