China, Ukraine, Krieg: Wo bleibt das europäische Interesse?

Deutschland wird vorgeworfen, in der China-Politik allein vorzupreschen und gegen europäische Interessen zu verstoßen. Doch was sind eigentlich Europas Interessen? Und wer spricht für sie, wenn es ernst wird – wie in der Ukraine?

Das deutsche Interesse ist nicht identisch mit dem europäischen. So viel immerhin ist rund um die umstrittene Reise von Kanzler Scholz nach China klar geworden. Scholz hat sogar eingeräumt, dass beides nicht zwangsläufig zusammen passt – und dass er sich nicht anmaßen kann und will, für die EU zu sprechen.

Dies ist ein Fortschritt. Ex-Kanzlerin Merkel tat immer so, als sei alles, was sie machte, automatisch gut für EUropa. Bei ihren Alleingängen in Russland und China hat sie keine Rücksicht auf womöglich gegenläufige Interessen anderer EU-Staaten genommen.

Diese Politik im “deutschen EUropa” ist passé. Doch leider geht der Fortschritt nicht weit genug. Scholz reist immer noch allein nach Peking – und EU-Kommissionsschefin von der Leyen schafft es nicht, ein gemeinsames europäisches Interesse schlüssig zu formulieren.

Schon klar, die Definition ist nicht einfach, 27 EU-Staaten haben 27 verschiedene nationale Interessen. Das europäische Interesse darf diese nicht übergehen, muß aber auch mehr sein als der kleinste gemeinsame Nenner. Deshalb fällt es so schwer, es zu artikulieren.

Dennoch ist es nötig – nicht nur gegenüber China, sondern auch in Russland und den USA. Sogar im Verhältnis zur Ukraine gilt es, das europäische Interesse zu bestimmen – denn die Interessenlage in Kiew ist nicht identisch mit der in Berlin, Brüssel oder Paris.

Doch ausgerechnet bei der Ukraine behauptet die EU eine Interessenidentität bis hin zur Selbstaufgabe. Ausgerechnet im Krieg präsentiert sich die ehemalige Friedensunion so, als passe kein Blatt zwischen die Länder in West und Ost und als wollten alle dasselbe.

Der Krieg darf nicht übergreifen

Dies ist gefährlich. Gerade im Krieg muß das europäische Ziel genau bestimmt und konsequent verfolgt werden. Denn im Krieg geht es um vitale Interessen, also ums Überleben. Diese vitalen Interessen sind von strategischen Interessen zu unterscheiden.

In der Ukraine drängt sich diese Unterscheidung geradezu auf. Strategisch mag es ein Ziel sein, dass Kiew die russische Invasion stoppt und den Krieg gewinnt (wobei der Sieg noch zu definieren wäre). Vital ist hingegen, dass der Krieg nicht auf die EU übergreift.

Um dieses vitale Interesse zu schützen, muß die EU die Ukraine und Russland davon abhalten, den Bogen zu überspannen und den Krieg auszuweiten. Sie muß rote Linien ziehen und laut und vernehmlich Stopp sagen, wenn ein Atomkrieg in EUropa droht.

Solidarisch bis zur Selbstverleugnung

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Doch weder von der Leyen noch Ratspräsident Michel sagen Stopp. Während US-Präsident Biden alles tut, um seine strategischen Ziele zu erreichen und ihre vitalen Interessen zu schützen, drücken sich die EU-Chefs um diese (über-)lebenswichtige Aufgabe herum.

Dies führt nicht nur dazu, dass die EU keinerlei Kontrolle über den Kriegsverlauf und seine Ziele hat – das müsse die Ukraine allein entscheiden, heißt es in Brüssel. Es führt auch dazu, dass sich die EUropäer fast willenlos immer tiefer in den Schlamassel ziehen lassen.

Selbst ein Fanal wie das Attentat auf Nord Stream hat daran nichts geändert, im Gegenteil: Deutschland und die EU stellen ihre Interessen zurück und versuchen, die Tat vergessen zu machen. Dabei ist Selbstverleugnung das Gegenteil einer selbstbewußten Geopolitik…

Siehe auch Wie das Nord-Stream-Attentat vertuscht wird (II)

P.S. Wie selbstbewußt die USA ihre Ziele formulieren, zeigt eine Rede von Sicherheitsberater Sullivan. Washington geht es um ein weltweites “strategic alignment” mit ihren Interessen, oder in Sullivans Worten: From transforming the G7 into a steering committee of the free world on issues like sanctions and energy security to launching an innovative and far-reaching security partnership on advanced capabilities called AUKUS we are deepening our unrivaled network of alliances and partnerships and driving a strategic alignment across the Atlantic and the Pacific.