Schulden für Reformen, Warnung vor Wein – und Zweifel am Rechtsstaat im Lockdown


Die Watchlist EUropa vom 11. Februar 2021 –

Das Europaparlament hat den Weg für einen klimafreundlichen und digitalen Neustart der Wirtschaft in der Coronakrise frei gemacht. Die EU-Parlamentarier stimmten mit einer Mehrheit von 582 zu 40 Stimmen für den 672,5 Milliarden Euro schweren Aufbaufonds.

Das Votum gilt als historisch, da die EU neue Wege geht und alte finanzpolitische Dogmen über Bord wirft.

Angesichts knapper Kassen will Brüssel zum ersten Mal in großem Stil Schulden machen. Damit wird die EU auch zu einem wichtigen Akteur am Finanzmarkt; die ersten Anleihen trafen auf große Nachfrage.

Neu ist auch, dass ein Großteil der Finanzhilfen als Zuschüsse und nicht als Kredite ausgeteilt werden. Angeschlagene Länder wie Italien müssen das Geld also nicht zurückzahlen.

EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen sprach von einem „wichtigen Schritt“ zur Überwindung der Krise. Die so genannte „Recovery and Resilience Facility“ werde Europa „grüner, digitaler und widerstandsfähiger“ machen.

Mindestens 37 Prozent der Ausgaben je Land sollen in den Klimaschutz gehen, ein Fünftel in die Digitalisierung.

Zunächst hilft das Programm aber vor allem der EU-Kommission. Sie bekommt nicht nur mehr Geld, sondern auch mehr Macht. Denn die Verteilung der Finanzhilfen wird von Brüssel überwacht.

Geld gegen (neoliberale) Reformen

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Die 27 EU-Staaten müssen Reformpläne vorlegen, um in den Genuss von Zuschüssen zu kommen. Dabei sollen sie sich nicht nur an Klimazielen orientieren, sondern auch neoliberale Reformauflagen aus dem „Europäischen Semester“ erfüllen.

Darauf hatte Bundeskanzlerin Merkel bestanden, bevor sie grünes Licht gab. Merkel setzte auch durch, dass das Programm befristet wird und die Schulden zurückgezahlt werden. Zudem soll die EU neue „Eigenmittel“ – also Steuern und Abgaben bekommen.

Die Details werden aber erst später festgelegt. Das letzte Wort haben die Staaten; das Europaparlament spielt nur eine Nebenrolle.

Dies führt zu Frust bei den Abgeordneten. „Eine stärkere Rolle des Parlaments wäre hier ein wichtiges Gegengewicht gewesen“, kritisiert der CSU-Parlamentarier Markus Ferber.

„Die Mitgliedstaaten wollten von Anfang an ein Konto, von dem sie ungestört Geld abheben können, ohne dass sie sich an lästige Vorgaben aus Brüssel halten müssen.“

Deutschland will keine Innovationen

Dies gelte auch für Deutschland, wohin 23 Milliarden Euro fließen sollen, meint der grüne Haushaltsexperte Rasmus Andresen.

„Statt in Reformen und Innovation, sollen die Gelder in Projekte gesteckt werden, die sowieso schon geplant waren. Kommunen, die echte Innovation antreiben könnten, bleiben außen vor.“ Berlin nutze den Aufbaufonds nicht für einen grünen Neustart.

Die Reformauflagen, die Merkel durchgeboxt hat, sollen wohl nur für die anderen gelten…

Siehe auch “Neue Schulden, alte Politik” sowie Grün, digital und neoliberal – wie passt das zusammen?. Eine detaillierte Kritik des Aufbauplans steht hier

Watchlist

Gelingt es der EU, die Spannungen um Nordirland beizulegen? Darum geht es bei einem Besuch Kommissionsvize Sefcovic am Donnerstag in London. Er spricht mit der britischen Regierung über das sogenannte Nordirland-Protokoll, das im Rahmen der Brexit-Verhandlungen vereinbart wurde. Die EU-Kommission hatte zeitweise angedroht, Kontrollen beim Export von Impfstoffen einzuführen und damit eine wichtige Vereinbarung des Protokolls außer Kraft zu setzen. Von diesem Fauxpas hatte sich sogar Michel Barnier distanziert, der frühere EU-Verhandlungsführer für den Brexit. – Siehe auch “Von der Leyen vermasselt den Brexit – und den Frieden in Nordirland”

Hotlist

  • Aus der beliebten Reihe “Brüssel schützt Sie” kommt diese Meldung in der “Tagesschau”: Wein soll nach Plänen der EU künftig mit Warnhinweisen versehen werden – ähnlich wie Tabakwaren. Salami stuft Brüssel als krebserregend ein. Aus Italien kommt massive Kritik. – Die Meldung ist zwar nicht neu, aber trotzdem ärgerlich. Die EU ist nämlich für Gesundheit gar nicht zuständig. Die Warnhinweise sind ein “Abfallprodukt” der Anti-Krebs-Strategie.Mehr dazu hier
  • Wegen des Lockdowns fürchten Anwälte in Belgien um den Rechtsstaat, berichtet “Le Soir”: Les avocats francophones, germanophones et flamands critiquent le recours à des arrêtés ministériels sans débat parlementaire pour imposer les mesures Corona. Ils dénoncent de grandes disparités dans l’application des sanctions. « Nous sommes préoccupés par cette érosion de l’Etat de droit. » – Den Appell haben nicht weniger als 20.000 Anwälte unterschrieben. Nun soll es eine Parlamentsdebatte geben…
  • Neues von der Türkei und ihren Ambitionen im Mittelmeer steht beim “EU Observer“: Turkey is close to completing purchase of a gas-drilling ship from Norwegian firm Dolphin Drilling in a move that bodes ill for EU relations. The ship was “legendary” and the “crown jewel” of the Norwegian fleet, Turkish pro-government newspaper Daily Sabah said. – Wie schön, dass Kanzlerin Merkel gerade wieder mit Sultan Erdogan flirtet. Ob sie um die türkischen Pläne wußte? – Siehe auch “Flirt mit Erdogan”